Bochum. . Birgit Shabbir wurde mit verkürzten Armen und Beinen geboren. Schuld war das Contergan, das ihre Mutter während der Schwangerschaft nahm.

  • Als Birgit Shabbir geboren wurde, rieten Ärzte dem Vater, das Baby „wegzumachen“
  • Ihr Leben lang war sie immer wieder Spott ausgesetzt – und hat stark dagegen gekämpft
  • Heute sagt sie: „Ich brauche nicht mehr darüber nachdenken, was der andere denkt.“

Am Telefon hatte man dem Vater von Birgit Shabbir gesagt, etwas Schlimmes sei passiert. Aufgewühlt fuhr er in das Gelsenkirchener Krankenhaus zu seiner Frau, die gerade entbunden hatte. Der Arzt hob die Decke, unter der Birgit Shabbir als Baby lag, zeigte auf die verkürzten Arme und Beine, sagte: „Wir können es auch wegmachen und so tun, als wäre es nicht geboren.“

Das war am 18. Dezember 1961. Birgit Shabbirs Mutter hatte Contergan genommen, jenes Medikament, das gegen morgendliche Schwangerschaftsübelkeit helfen sollte und Behinderungen auslöste. Vor 60 Jahren kam es auf den Markt, bis zu 10 000 Kinder wurden mit verkürzten oder fehlenden Gliedmaßen geboren. Bei Birgit Shabbir sind es die Arme und die Beine, ihre Hände sind verdreht, ihre Hüfte existiert kaum noch. „Ich lebe mit Schmerzen“, sagt sie. „Es ist ein Wunder, dass ich laufen kann.“ 16 Jahre lang arbeitete Birgit Shabbir für die Sparkasse. Dann ging es nicht mehr, der Arzt zog die Reißleine, das lange Sitzen setzte ihr immens zu.

Conterganer fühlen sich wie Forschungsobjekte

Forschungsobjekte seien sie gewesen, die Conterganer, wie sie sich selbst nennen. Einmal musste Birgit Shabbir Handschienen tragen, damit sich die Hände begradigen, „aber es tat so weh, und gebracht hat es nichts“. Operiert wurde sie oft, immer wieder an der Hüfte, an den Knien. Ihren 18. Geburtstag feierte sie in einer Klinik. Einen Strauß roter Rosen wünschte sie sich, „wir können dir lieber einen Pulli kaufen“, sagte die Mutter. Der Vater holte die Rosen. Die Mama war es, die dem Kind Birgit Selbstständigkeit antrainierte. „Drei Tage habe ich gebraucht, um mich selbst anzuziehen und dann kam ich aus dem Zimmer, die Socken falsch, und habe gesagt: Die bleiben jetzt so.“ Ihr Vater gab die Liebe, die Mutter das Selbstbewusstsein.

Voller Lebensfreude und ohne Gram erzählt Birgit Shabbir ihre Geschichte. Eine Frau, die mit sich im Reinen scheint, trotz ihres Schicksals. Und die dankbar ist für ihre Eltern, die sie immer unterstützten. „Es gab auch andere, die gaben ihre Kinder weg oder versteckten sie.“

Birgit Shabbir geht offen mit der Behinderung um

Stark hat Birgit Shabbir sich durchgesetzt gegen Kinder, die sich über sie lustig machten, ist offen mit ihrer Behinderung umgegangen. Aber nach 1989, als die Bochumerin selbst ein Kind bekam, als ihr Sohn in der Klasse wegen seiner Mutter gepiesackt wurde, da tat es weh. „Wir sind da einen schweren Weg gegangen“, sagt die 55-Jährige. Auch weil man sie in der Schule nicht erzählen hat lassen, woher diese Behinderung kam, warum sie anders aussah als die anderen.

Noch heute wundert sie sich über Eltern, die sich eher abwenden, als ihren Kindern Fragen zu beantworten. Sie selbst versucht, komische Situationen aufzulockern. Als ein Junge sie als Kind verspottete, sagte sie: „Schau mal, du hast eine Zahnlücke. Wie fühlt es sich an, wenn wir darüber lachen?“

Was bleibt, ist die Wut auf Grünenthal, den Hersteller, der das Medikament Contergan 1957 auf den Markt brachte. Und vor allem auf den damaligen geschäftsführenden Gesellschafter Hermann Wirtz und seinen Sohn Michael Wirtz, der die Geschäfte seines Vaters 1969 übernahm. Nie haben sie Verantwortung übernommen, sich nie entschuldigt. „Sie sind über Leichen gegangen“, sagt Birgit Shabbir.

Erste offizielle Entschuldigung von Grünenthal 2012

Erst im Jahr 2012 gab es die erste offizielle Entschuldigung von Grünenthal bei der Eröffnung des Denkmals für Contergan-Geschädigte in Stolberg bei Aachen. Ein Fonds der Firma unterstützt die Betroffenen individuell. Birgit Shabbir hat so einen Fahrstuhl finanziert, der sie in ihrem Haus in den ersten Stock bringt. Dankbar ist sie dafür, hat Verwalter des Fonds zu sich nach Hause eingeladen, um ihnen zu zeigen, was sie ermöglicht haben. „Das hatten sie vorher noch nie erlebt. Aber sie können ja nichts dafür.“

Birgit Shabbir und anderen Conterganern sei eine immense Menschenkenntnis antrainiert worden. Sie spüren, was der Gegenüber denkt, ob er ehrlich ist. Aber jetzt, nach all der Zeit, könne sie sich zurücklehnen, sagt die 55-Jährige. „Ich brauche nicht mehr darüber nachdenken, was der andere denkt.“ Auch nicht über das, was noch kommt: „Ich lebe jetzt.“

>>> INFO: Hintergründe zum Contergan-Skandal

Das Medikament Contergan wurde von 1957 bis 1961 vertrieben. Es sollte Schwangeren bei morgendlicher Übelkeit helfen. Im Jahr 1961 gab es mehrere Veröffentlichungen, die das Medikament in Zusammenhang mit Fehlbildungen bei Neugeborenen brachte. Daraufhin nahm der Hersteller Grünenthal Contergan aus dem Handel.

  • Der Bundesverband für Contergan-Geschädigte geht von rund 2400 Betroffenen in Deutschland aus. In Bochum sind sie in einem Ortsverband organisiert.

  • Vor vier Jahren erhöhte der Bundestag die Renten der Opfer von maximal 1152 auf höchstens 6912 Euro. Der Betrag bemisst sich nach Schadenspunkten. Zudem gibt es einen Superfonds der Firma Grünenthal für individuelle Unterstützungen.