Bochum. . Zum ersten Mal dürfen Menschen wählen, die unter Betreuung stehen. Das Wahlrecht gilt aber nur für die Landtagswahl – nicht für die Kanzlerwahl.

  • In NRW sind mehr als 21 000 Behinderte vom neuen Wahlrecht betroffen
  • Lebenshilfe Bochum „findet Entscheidung vollkommen richtig“. Schwierig sei die Barrierefreiheit
  • Kritik gibt es daran, dass Behinderte bei der Bundestagswahl nicht wählen dürfen

Bei dieser Landtagswahl dürfen zum ersten Mal Menschen wählen, die eine Betreuung in allen Lebenslagen haben. In Nordrhein-Westfalen sind das rund 21 000 Betroffene, in Bochum mehrere Hundert. „Wir finden das absolut richtig“, sagt Ulf Kauer, Geschäftsführer der Lebenshilfe, zu der Änderung des Wahlrechts, die bundesweit zum ersten Mal in Schleswig-Holstein vergangenen Sonntag und nun in NRW umgesetzt wird. „Dass jemand mit eingeschränkten Fähigkeiten nicht wählen darf, entspricht nicht dem heutigen Verständnis von Menschenrechten.“

Genügend Schwierigkeiten gebe es ohnehin noch: „Ein Problem ist, dass die Barrierefreiheit nicht gewahrt ist und dass die Sprache auf den Wahlunterlagen zu kompliziert ist.“

Komplizierte Schriftstücke sind ein Problem

Männer und Frauen, die unter vollständiger Betreuung stehen, können eine geistige Behinderung haben, sie können psychisch erkrankt sein oder an Demenz leiden. Das Wahlrecht unterscheidet da nicht. Sicher aber ist, dass es Menschen sind, die in ihren kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt sind – und somit Probleme haben, komplizierte Schriftstücke zu verstehen.

„Wir würden uns wünschen, dass es eine Anleitung in leichter Sprache gibt, wie man einen Wahlzettel ausfüllt“, sagt Kauer. Bei der Lebenshilfe werden rund 200 Personen mit geistiger Behinderung betreut, 150 von ihnen in den Wohneinrichtungen. Viele sind von dem neuen Wahlrecht betroffen – und freuen sich darauf. „Wenn jemand Spaß am Wählen hat, dann sind es unsere Bewohner.“

Stadt Bochum kennt die Zahl der Betroffenen nicht

Wie viele „Neuwähler“ tatsächlich am Sonntag an die Urnen gehen, beziehungsweise schon per Briefwahl abgestimmt haben, kann die Stadt Bochum nicht sagen. „Uns liegt nur die Zahl aller Wahlberechtigten vor“, erklärte Wahlamtsleiter Stephan Heimrath auf Nachfrage.

Auch das Einwohneramt kann die Zahlen nicht liefern. Man könne zwar die Wahlausschlüsse einsehen. Welche davon aber durch eine Behinderung und welche durch Straffälligkeit begründet sind, sei nicht feststellbar, hieß es von Seiten des Einwohneramts. Anders in Bottrop: Die Stadt gab bekannt, dass sie 84 Betroffenen eine Wahlbenachrichtigung geschickt hat. Auf die Bochumer Einwohnerzahl hochgerechnet, wären hier rund 300 Betreute betroffen.

Wahlrecht gilt auf Bundesebene nicht

Natürlich könne man nicht garantieren, dass die geistig Behinderten völlig einschätzen können, wen sie da wählen, gibt Ulf Kauer zu Bedenken. „Aber wie wollen wir in einer inklusiven Gesellschaft leben, wenn Behinderte dieses Grundrecht nicht ausüben?“

Umso mehr verärgert es ihn, dass dieses Wahlrecht nur auf Landesebene gilt – auf Bundesebene nicht. „Das ist, gelinde gesagt, ein Skandal.“