Bochum. In Jan-Christoph Gockels Fassung von Franz Kafkas „Die Verwandlung“ treffen in den Bochumer Kammerspielen die Schauspieler auf Figuren, die so aussehen wie sie.

„Die Verwandlung“ müsste bei Jan-Christoph Gockel eigentlich „Die Verwandlungen“ heißen, denn es wird eben nicht vorgeführt, wie eine Einzelner der Welt abhanden kommt, sondern wie die Welt mit ihren Zwängen und Verbindlichkeiten sich über den Einzelnen stülpt und ihn dadurch verändert. Und sie sich gleich mit. Denn wenn der Sohn plötzlich ein Käfer ist, ist auch das üblich gewordene Familienleben obsolet. Was aber, wenn gerade dieses übliche Familien- und Geschäftsleben die „Verwandlung“ überhaupt erst angestoßen hat?

Die Wirklichkeit verschiebt sich

Franz Kafkas berühmte Novelle („Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“) wirft mehr Fragen auf, als es Antworten gibt. Gockels Inszenierung fügt keine neuen hinzu, auch weil – wie einmal fast schon verzweifelt eingeflochten wird – es über „20 Meter Sekundärliteratur“ zu dem Buch gibt. Doch beleuchtet die Aufführung das leise Subversive in Kafkas Kunst: Die vertraute Wirklichkeit muss sich nur ein wenig verschieben, schon ist alles anders und verwandelt.

Wie in einem Magritte-Gemälde

Der Kunstgriff gelingt mit Hilfe von großäugigen Puppen/Marionetten (Gestaltung: Michael Pietsch) und über das geniale, die Novelle akkurat zitierende Bühnenbild von Julia Kurzweg. Unablässig kreist die Drehbühne und zeigt die Samsa-Wohnung und Gregors Käfer-Raum vom Puppenhaus-Format bis zum Riesenzimmer: Eine Doppelt- und Dreifachwelt, durchstoßen von engen Fluren, wie man sie aus fiebrigen Träumen kennt, surreal aufgeladen wie ein Gemälde von René Magritte.

Der Clou sind die Puppen

Der Clou aber sind die Puppen; schon fast unheimlich exakt den Schauspielern nachgebildet, vervielfachen sie die Handlungsträger: der herrisch-steife Vater (Uwe Zerwer), die hysterisch-naive Mutter (Katharina Linder), der verschlagene Prokurist (Michael Pietsch), die lolita-hafte, laszive Schwester Grete (eine Entdeckung: Luana Velis). Zwischen ihnen hin- und hergestoßen (oder an ihren „Fäden“ geführt?) agiert Nils Kreutinger als verwandelter Gregor. Das Monster, den Käfer, oder was immer es ist, sieht man allerdings nie: Dafür gibt es ihn, Gregor, fünf-, sechsfach: als Schauspieler und als immer kleiner werdende Figur. Am Ende ist das Individuum, das Gregor einmal war, eine Mini-Mini-Marionette und kaum noch zu sehen. Ein Mensch verschwindet vor den Augen des Publikums: ein starker, ein verstörender, auch trauriger Moment.

Robust und körperlich

Der philosophische Gehalt der Novelle wird in der mit großem Applaus bedachten Aufführung gut erfasst, allerdings birgt die Bühnenadaption einer so komprimierten Literatur, wie Kafka sie schrieb, auch Gefahren. Was beim Lesen in nuancierten Andeutungen erscheint, und erst im Kopf des Leser zur Ungeheuerlichkeit aufsteigt, muss auf der Bühne robust und körperlich bebildert werden. So wirkt der sonst sehr gelungene Abend stellenweise übersteuert, das gilt für den trällernden Soundtrack, vor allem aber für die als schlüpfrigen Kalauer angelegte Episode mit der Aufwartefrau.

Die nächsten Termine: 2., 6., 11., 26.11. , Karten 0234/3333-5555