Bochum. In Bochum gibt es eine der größten deutschen Internetsucht-Ambulanzen. Früher waren die Patienten fast nur männlich, jetzt kommen immer mehr Frauen.

Plötzlich faselt Siri dazwischen. Ausgerechnet hier: Bert te Wildt leitet die Ambulanz für Internetsucht an der Bochumer LWL-Universitätsklinik, und dass die Sprachassistenz seines Smartphones sich unversehens meldet, ist ihm offenbar ein wenig peinlich. "Da bin ich wohl an einen Knopf gekommen", murmelt er. Neuerdings nutze er auch Twitter und Facebook. "Diese Netzwerke können tatsächlich ein gewisses Suchtpotenzial haben", sagt der Arzt.

Als die Medienambulanz, die zu den größten in Deutschland gehört, 2012 startete, waren die Patienten fast ausschließlich Männer, die süchtig nach Computerspielen oder Cybersex waren. Damals vermutete man, dass soziale Netzwerke kein hohes Suchtrisiko in sich bürgen. Denn um Facebook sinnvoll nutzen zu können, müssten Nutzer ein möglichst abwechslungsreiches Leben jenseits des Digitalen haben, um zum Beispiel entsprechend viele interessante Bilder posten zu können. Onlinespiel-Süchtige hingegen vergrüben sich komplett in ihrem Spiel, führten kein Leben in der realen Welt mehr; so die damalige Theorie. "Das war auch mal meine Hypothese, das muss man aber relativieren", sagt Bert te Wildt. Drei neuen Patienten kommen durchschnittlich pro Woche zu ihm in die Ambulanz - und immer öfter sind es Frauen, die abhängig von sozialen Netzwerken sind.

"Facebook ist wie eine weiche Droge"

Eine Studie der Uni Lübeck bestätigt das Phänomen: Von Computerspielsucht sind meist junge Männer betroffen, Abhängigkeitsmerkmale bei sozialen Netzwerken finden sich hingegen deutlich öfter bei Frauen. Warum das so ist, wisse man derzeit noch nicht, so te Wildt. "Facebook zum Beispiel kann ja auch wie ein Spiel funktionieren, ist ja eine Art Gesellschaftsspiel sozusagen. Denn auch hier spielen die Nutzer ja in gewissem Sinne eine Rolle, vergleichbar mit der Figur oder dem Avatar in Onlinespielen. Das ist wie eine Art Parallelwelt“, erklärt te Wildt. Eine Parallelwelt, in der die Nutzer nur ihre Schokoladenseiten zeigen können, eine optimierte Identität entwickeln.

„Allgemein kann man sagen, dass bei Internetsüchtigen die sozialen Kontakte leiden. Computerspielsüchtige haben oft gar keine Kontakte mehr in der realen Welt. Das Paradoxe: Jemand, der zum Beispiel facebook-süchtig ist, hat ja wahrscheinlich ganz viele soziale Kontakte innerhalb des Netzwerkes. Aber häufig haben Betroffene Angst vor unmittelbaren Kontakten in der realen Welt."

Die deutsche Facebook-Version gibt es seit 2008. Andere soziale Netzwerke wie StudiVZ waren da schon längst online. Warum kommen Frauen, die Sucht-Symptome zeigen, erst jetzt allmählich in die Medienambulanz? "Das kann daran liegen, dass Jungen und junge Männer eher als Problemfälle behandelt werden. Mädchen und junge Frauen ziehen bei schulischen Leistungen an den Jungen vorbei, sie fallen womöglich weniger auf, wenn es Probleme gibt", vermutet te Wildt. Außerdem seien die Folgeerscheinungen bei der Sucht nach sozialen Medien weniger weitreichend oder sichtbar, als bei Computerspielsucht. "Typische Folgeerscheinungen sind zum Beispiel ein Vernachlässigen des eigenen Körpers bis hin zur Verwahrlosung", so te Wildt. Bei Onlinespiel-Sucht treffe das häufig zu, bei Social-Media-Abhängigen eher nicht. "Man könnte sagen, Facebook und Co. sind so etwas wie weiche Drogen, während Onlinespiele harte Drogen sind.“

"Es melden sich Frauen, deren Männer süchtig nach Cybersex sind"

Aus eigenem Antrieb gehen die wenigsten den Schritt in Richtung Therapie. "Oft melden sich Angehörige, die bei den Betroffenen kein Gehör finden. Also zum Beispiel Frauen, deren Männer süchtig nach Cybersex sind oder Eltern, deren Kinder nur noch mit Computerspielen beschäftigt sind. Wir klären dann erst einmal, wie sie die Betroffenen dazu bringen können, sich in Behandlung zu begeben.“

Häufig sehen Süchtige auch gar keinen Grund dafür, etwas an ihrem Leben zu ändern - nicht zuletzt deshalb, weil Angehörige die Sucht mehr oder minder unbewusst unterstützen. "Es gibt es da eine sogenannte Co-Abhängigkeit, die dem Süchtigen den Grund nimmt, etwas an seiner Situation zu ändern. Das heißt, Angehörige unterstützen die Sucht ungewollt, indem sie sich darauf einrichten. Zum Beispiel wird dann das Essen direkt vor dem Computer serviert. Da wird dann mit den Angehörigen geschaut, was sie selbst ändern können.“

In der Ambulanz lernen die Patienten in bis zu 50 Sitzungen den Weg zurück ins reale Leben - und möglicherweise den völligen Verzicht auf den Suchtgegenstand. Denn es gelinge den Betroffenen nicht unbedingt, weiterhin Onlinespiele zu spielen, ohne in die Sucht zurückzufallen. Der Entzug danach kann gefährlich sein. „Wenn man Betroffenen, die jahrelang ihre Wachstunden in einer digitalen Parallelwelt verbracht haben, plötzlich diese Parallelwelt nimmt, fühlen sie sich existentiell bedroht. Manche reagieren dann mit extremer Aggression oder Depression. Ich hatte mal einen Fall, da hat ein junger Mann seinen Stiefvater gewürgt, weil er nicht mehr ins Internet durfte. Häufiger aber werden Patienten suizidal.“