„Die Unwilligen“ machen sich seit 1992 um die Bühnenkultur verdient. Heimat der freien Theatergruppe ist das Kulturhaus Thealozzi, wo aktuell die bereits 19. „unwillige“ Produktion gespielt wird: Lutz Hübners „Gretchen 89ff.“, ein launiges Theater-auf-dem-Theater-Schauspiel, bei dem kein Auge trocken bleibt.
Die Unwilligen (Birgit Gonschorowski, Corinne Fischer, Iris Schotte-Emrich, Heiko Büscher, Thomas Werschmöller, Eva Cevigoglu, Thomas Hühnerfeld, Frank Vogt, Kaya Kuliszewski, Dimitris Kamitsis) empfangen die Zuschauer im Treppenhaus des Thealozzi mit „Es war ein König in Thule“; mit dem herzzerreißenden Lied aus dem „Faust“ geht es die Treppe hoch und ab in den Theatersaal. Und damit mitten hinein in Deutschlands bekanntestes Drama: „Faust 1“ vom großen Goethe.
Wahnsinn feiert Urständ’
Klar, schon der Titel „Gretchen 89ff.“ zielt darauf ab, denn in Hübners Stück geht es um die bekannte„Kästchen-Szene aus „Faust 1“. Darin findet das schüchterne Gretchen nach ihrer ersten Begegnung mit Faust in ihrem Zimmer ein Schmuckkästchen: „Wie kommt das schöne Kästchen hier herein? Ich schloss doch ganz gewiss den Schrein. Was mag wohl drinnen sein?“ Besagte Passage steht im gelben „Faust“-Reclamheft auf Seite 89ff. = fortlaufend folgende...
Die Szene ist kurz, aber sie füllt einen zweistündigen Abend, denn sie wird in zehn Varianten wiederholt. Hübner hat verschiedene Typen von Regisseuren, Schauspielern und Bühnenschaffenden aufgeboten. Wir erleben, wie eben diese Typen versuchen, die Kästchen-Szene zu stemmen. Das Publikum sitzt mitten im Geschehen und folgt dem Spiel zunächst irritiert, dann zunehmend fasziniert.
Wer wenig Nähe zum Theaterbetrieb hat, mag denken, auf den Brettern, die die Welt bedeuten, feiere der Wahnsinn fröhliche Urständ’. Vielleicht ist das aber tatsächlich so, denn Hübners Figurenkabinett steckt zwar voller Klischees, dennoch ist sicher ‘was dran. Den verächtlichen Regie-Star („Wie soll ich mit Leuten Theater machen, die keine Abgründe in sich haben?“) gibt es ebenso wie die bekiffte Spielleiterin, die bald nicht mehr so recht weiß, was eigentlich geprobt wird. Oder die unbeleckte Nachwuchsregisseurin, die von der überheblichen Schauspieler-Diva niedergewalzt wird.
Die Unwilligen haben mit sicherem Gespür die Schwingungen in Hübners witzigem Schauspiel für sich entdeckt. Starke Momente haben alle Mitwirkenden, aber die besagte „Diva“-Szene (mit Schotte-Emrich und Kuliszewski) oder jene mit dem Alt-Regisseur (Büscher), der die junge Schauspielerin (Gonschorowski) mit Anekdoten aus seinem bewegten Leben zur Verzweiflung bringt, bleiben besonders haften. Mit „Gretchen 89ff.“ liefern Die Unwilligen eine runde Leistung ab, einen Abend, der Theaterfreaks manchen Aha-Effekt beschert. Und für alle anderen nicht minder unterhaltsam ist.