Bochum. Viele jugendliche Flüchtlinge haben sich mit utopischen Vorstellungen auf nach Europa aufgemacht. Allen gemein ist der Wille, es zu etwas zu bringen.

Auf dem Poster über seinem Bett jubeln die Bayern mal wieder über den Titelgewinn. Mamadous Traum, irgendwann selbst bei seinem Lieblingsklub Fußball zu spielen, dürfte sich kaum erfüllen. Die Sehnsucht nach einem Leben ohne Angst, mit Hoffnung und Perspektive ist für den 17-jährigen Westafrikaner Realität geworden: „Globus“ sei Dank.

„Jungenwohngruppe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“: So heißt das Domizil, in dem Mamdou aus Guinea und mit ihm weitere 15 Jugendliche zuhause sind. Vor vier Jahren hat der St. Vinzenz e.V. die Gruppe in den Christ-König-Räumen am Steinring eingerichtet. Nie waren die 16 Plätze in Einzel- und Doppelzimmern wichtiger als heute. Denn es sind immer mehr Armuts- und Kriegsflüchtlinge, die – kaum der Kindheit entwachsen – ihre Heimat und Familien zurücklassen und sich allein auf den Weg ins vermeintlich reiche Europa machen. Nicht selten als Waisen.

Mohammed (vorne) aus Guinea hilft gerne beim Kochen mit – sehr zur Freude von Hauswirtschafterin Jaqueline und Globus-Mitarbeiter Manuel Richter (hinten).
Mohammed (vorne) aus Guinea hilft gerne beim Kochen mit – sehr zur Freude von Hauswirtschafterin Jaqueline und Globus-Mitarbeiter Manuel Richter (hinten). © Ingo Otto / Funke Foto Services | Ingo Otto / Funke Foto Services

Syrien, Afghanistan, Guinea, Gambia, Somalia: Hinter vielen der 14- bis 18-Jährigen liegt ein Martyrium, sowohl daheim als auch während der Flucht. Darüber sprechen mögen die wenigsten. Mamadou sagt lediglich leise, dass er seit seiner Flucht vor einem Jahr nichts mehr von seiner Mutter gehört habe.

„Selbstmelder“ auf dem Bahnhof

„Die Jugendlichen machen sich oft völlig utopische Vorstellungen von Deutschland. Die hörten zuhause die abenteuerlichsten Storys. Sie glauben, hier hat jeder sofort Arbeit, verdient viel Geld. Nach zwei, drei Monaten kommen sie in der Realität an. Sie ziehen sich zurück, grübeln: Lebt meine Familie noch? Kann ich hier bleiben? Und nachts kommen die Albträume“, weiß Jessica Huber (27), die die Gruppe mit Daniel Krause leitet.

Bis Frühjahr strandeten die Jugendlichen als „Selbstmelder“ auf dem Bahnhof: „Hello, I’m a stranger.“ Seither werden sie von den Erstaufnahmeeinrichtungen gezielt zugewiesen. Medizin-Check, Einkleiden („Viele haben nur einen kleinen Rucksack dabei“): Und das Projekt Zukunft beginnt. Die Jugendlichen besuchen spezielle Förderklassen in den Berufsschulen, pauken täglich zusätzlich Deutsch. Computerkurse bei der VHS, Fußballtraining bei heimischen Vereinen und andere Freizeitaktivitäten markieren weitere Stationen auf dem Weg zur Integration.

Die gelingt immer häufiger. Nach Haupt- und Realschulabschluss können die Flüchtlinge in jeweils zwei angemietete und betreute Trainingswohnungen und WGs umziehen, bevor sie nach ein, zwei Jahren komplett auf eigenen Füßen stehen.

Hilfe beim Kochen oder Bad- und Küchendienst

Auf „die Jungs“ lässt Jessica Huber nichts kommen. Der Umgang in der Wohngruppe mit ihren neun Betreuern: „respektvoll, gerade auch gegenüber uns Frauen.“ Der Eifer beim Lernen und gemeinschaftlichen Leben am Steinring: „sehr groß.“ Die Hilfe beim Kochen oder Bad- und Küchendienst: „schnell selbstverständlich.“ Die Jungs, lobt die Leiterin, seien hoch motiviert. „Die wollen hier was erreichen! Die wollen hier was werden!“ Das Fundament indes ist brüchtig. Die minderjährigen Flüchtlinge sind nur geduldet, genießen nur ein Bleiberecht. Das erlaubt ihnen immerhin, eine Ausbildung zu beginnen.

Mamadou, der das Alice-Salomon-Berufskolleg besucht, will die Chance nutzen. Sein Berufswunsch ist Schneider. Der FC Bayern kann ja dann immer noch anklopfen.

Lehrerin wird Tagesmutter für jungen Afrikaner

Als Brigitte Neu den 17-jährigen Ahmed vor elf Monaten bei einem Grillfest des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) kennenlernte, sollte sie eigentlich nur seine neue Deutschlehrerin werden. Doch mittlerweile ist der Flüchtling aus Guinea viel mehr als das: Seit Anfang Juli lebt Ahmed als Pflegekind bei der 63-jährigen Lehrerin.

„Die Chemie zwischen uns stimmte einfach“, erzählt Brigitte Neu. Aus den Deutsch-Stunden wurde schnell eine Beratung in Dingen des Alltags: „zum Beispiel, wie man ein Konto eröffnet oder wie man den Geldautomaten bedient.“ Die Beziehung der beiden ist so innig, dass der Jugendliche die Lehrerin „Mam“ nennt. Für Neu ist der intensive Kontakt mit dem jungen Mann aus dem von der Ebola-Epidemie gezeichneten Land eine Bereicherung: „Ich habe es für mich ‚Fortbildung Afrika‘ genannt, weil er eben viele Dinge anders angeht.“

Prüfung mit Bravour bestanden

Bis Ahmed 21 Jahre ist – das Alter, in dem er in seinem Heimatland als volljährig gilt –, ist er vor einer Abschiebung sicher. Erst dann wird darüber entschieden, ob er bleiben kann oder nicht. Bis dahin arbeitet Ahmed, der zuvor in der Globus-Gruppe wohnte (Bericht oben), fleißig an seiner Zukunft in Deutschland. „Er ist sehr willig zu lernen, saugt alles auf“, so Neu. Die Prüfung, um ab dem kommenden Schuljahr die 10. Klasse der Berufsschule besuchen zu können, hat er mit Bravour bestanden. Auch als Praktikant bei einer Klima- und Kühltechnikfirma hat er sich bewiesen. Der größte Traum des leidenschaftlichen Fußballers ist es aber, eines Tages in der Bundesliga zu spielen. Bislang kickte er für die SG Wattenscheid 09 in der Westfalenliga. „Was ihm fehlt ist jemand, der ihn unterstützen kann. Von Sport habe ich zu wenig Ahnung“, so Neu.

Bis zu seiner Volljährigkeit steht Ahmed neben seiner Pflegemutter noch Birgit Carduck vom SkF als rechtlicher Vormund zur Seite. Für insgesamt 49 minderjährige Flüchtlinge hat der SkF die Vormundschaft übernommen. „Nun suchen wir noch ehrenamtliche Helfer, die mit den jungen Menschen die Freizeit gestalten“, so Carduck. Davon gibt es bislang nur fünf.