Kunstgeschichtlich ist der russische Konstruktivismus der 20er Jahre als Einflussgröße kaum zu überschätzen. Nach der Oktoberrevolution entwickelten die Avantgardisten eine revolutionär-ungegenständliche Darstellungsweise, die nichts weniger wollte, als beim Aufbau der neuen Gesellschaft, bei der Erschaffung eines „neuen Menschen“ mitzuwirken. Die aktuelle Ausstellung im Kunstmuseum zeugt von der überbordenden kreativen Potenz jener Zeit, und von den künstlerischen Zeugnissen, die sie hervorbrachte. Es sind dies vielfach Ikonen der Kunst des 20. Jahrhunderts.

Traum vom „neuen Menschen“

„Wir müssen den Schleier von unseren Augen reißen“ heißt die Exposition, die aus Beständen der Sepherot Foundation Liechtenstein als Bochumer Kooperation mit der Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen Rüsselsheim und dem Kunstmuseum Dieselkraftwerk Cottbus realisiert wurde.

Die Schau ist, man muss es so sagen, sensationell. Alle großen Namen der konstruktivistischen Epoche sind vertreten. Kasimir Male-witsch, El Lissitzky, Jewgeni Chaldei, Alexander Rodtschenko, Nikolai Sujetin, Nadeshda Udalzowa. Anhand von Fotografien, Collagen, Zeichnungen, Drucken, Plakaten und Skizzen wird schlüssig nachvollzogen, wie die aus der bildenden Kunst kommenden Impulse das „neue Zeitalter“ gestalten sollten. Selten waren Künstler, zumal avantgardistische, derart eingebunden in gesellschaftliche Transformationsprozesse wie damals. Der Stalinismus und die Abkehr von den plötzlich als „Formalisten“ verschrieenen Künstlern machten dem großen Traum ein rasches Ende.

Zumal das neuartige Medium der Fotografie damals die Kunst durchdrang. Es war insbesondere Alexander Rodtschenko, der früh die konstruktivistische Fotografie prägte. Exemplarische Beispiele dafür sind zu sehen, und es wird im Kontext der 100 Exponate aus unterschiedlichen Genres deutlich, wie sehr Rodtschenkos Fotografien etwa des modernen Großstadtlebens sich mit ihren schrägen, angeschnittenen Perspektiven auf abstrakt-malerische Bildkompositionen von Künstlern wie Kasimir Malewitsch beziehen.