Bochum. Der Straßenname „Deutsches Reich“ in Bochum-Werne gilt als bundesweit einzigartig. Die Bewohner ficht die politische Diskussion allerdings nicht an.

„Wo wohnen Sie?“ – „Im Deutschen Reich.“ Dieser Wortwechsel ist nur in Werne möglich. Hier, so klärt uns Google auf, existiert die einzige Straße in Deutschland namens Deutsches Reich. Deren Bewohnern ist die altertümliche, mitunter missverständliche Adresse herzlich egal. „Klar gibt’s mal Fragen und irritierte Blicke“, weiß Anwohnerin Martina Pöppinghaus. Aber: „Hier lebt es sich ruhig und friedlich. Und die Nachbarschaft funktioniert.“

Werner Hellweg, bei Elektro Büttner scharf abbiegen: Hier beginnt das Deutsche Reich. Wohlmeinende Gutmenschen haben in den vergangenen Jahren immer wieder Kritik geübt und Assoziationen mit der Nazi-Barberei angestellt. Wer sich halbwegs in der Geschichte auskennt, weiß zwar: Das „Deutsche Reich“ steht für das deutsche Kaiserreich (1871 bis 1918) und für die pluralistisch geprägte Demokratie der Weimarer Republik (1919 bis 1933). Es steht aber eben auch für die Diktatur im Nationalsozialmus, als „Drittes Reich“ verherrlicht, millionenfach mit Mord und Unterdrückung besudelt.

Geschichte der Siedlung reicht bis 1875 zurück

Die politischen Gremien in Bochum sperrten sich stets gegen eine Umbenennung. Sie verweisen auf die ganz und gar unpolitische Geschichte der Siedlung, die ins Jahr 1875 zurückreicht. „Deutsches Reich“: So hieß die Kumpel-Kolonie, die die Harpener Bergbau AG seinerzeit für ihre Arbeiter und Angestellten der Werner Schachtanlage (später Robert Müser) errichten ließ. „Der Ursprung des Namens wird in einer Zusammenfassung der vielen Herkunftsgebiete seiner Bewohner oder in der zeitnahen Reichsgründung durch Bismarck vermutet“, heißt es auf einem der Hinweisschilder, die vor zwei Jahren auf Beschluss der Bezirksvertretung angebracht wurden, um Missverständnisse auszuräumen. Die Bogestra hatte Jahre zuvor reagiert und die nahe Haltestelle in Werne-Mitte umbenannt. „Nächster Halt: Deutsches Reich“ hat sich sowohl nicht ganz passend angehört...

Manfred Göcking befreit die Bodenplatte seines künftigen Eigenheims vom Schnee.
Manfred Göcking befreit die Bodenplatte seines künftigen Eigenheims vom Schnee. © Gero Helm / FUNKE Foto Services

Deutschtümelei, gar Nationalismus wird beim Gang über die Straße auf keinem Meter offenbar. So außergewöhnlich der Name, so bodenständig und im besten Sinne durchschnittlich sind die Menschen, die hier zuhause sind. Ein Anwohner, der namenlos bleiben will, erwähnt „einen alten, ewiggestrigen Opa, der vor Jahren nur hier hergezogen ist, um ,im Deutschen Reich zu wohnen’, wie er oft und gerne tönte. Der ist aber längst tot.“ Ansonsten: Lauter nette, offene, entspannte Menschen, die die WAZ-Reporter auf der U-förmigen Straße mit Schweiffortsatz herzlich begrüßen.

Siedlung ist ein begehrter Platz für Häuslebauer

So wie Manfred Göcking, der die Bodenplatte seines künftigen Eigenheims vom ersten Schnee des Winters befreit und ganz in der Nähe wohnt. „Das Deutsche Reich ist eine sehr gute Wohnlage. Beschaulich, aber doch zentral – und deshalb auch alles andere als preisgünstig“, sagt der 67-Jährige Bauherr und wird vom Bauschild bestätigt, das vor der Freifläche für den „Platz für ein schönes Stück Freiheit“ wirbt.

Leben im „Deutschen Reich“

Nicht nur im Winter bietet die Straße Deutsches Reich manch idyllischen Anblick. Die Bewohner mögen die Ruhe und Beschaulichkeit.
Nicht nur im Winter bietet die Straße Deutsches Reich manch idyllischen Anblick. Die Bewohner mögen die Ruhe und Beschaulichkeit. © Gero Helm / FUNKE Foto Services
Ein Schild informiert über die Herkunft des Siedlungsnamens.
Ein Schild informiert über die Herkunft des Siedlungsnamens. © Gero Helm / FUNKE Foto Services
Manfred Göcking beim Schneefegen..
Manfred Göcking beim Schneefegen.. © Gero Helm / FUNKE Foto Services
Schmucke Neubauten stehen...
Schmucke Neubauten stehen... © Gero Helm / FUNKE Foto Services
...neben historischen Zechenhäusern.
...neben historischen Zechenhäusern. © Gero Helm / FUNKE Foto Services
picturegallery-453829_1682083.jpg
© Gero Helm / FUNKE Foto Services
picturegallery-453829_1682099.jpg
© Gero Helm / FUNKE Foto Services
Die alten Zechenhäuser verschwinden langsam aus dem Deutschen Reich.
Die alten Zechenhäuser verschwinden langsam aus dem Deutschen Reich. © Gero Helm / FUNKE Foto Services
Das Oberlinhaus der Evangelischen Kirchengemeinde schloss im September 2013 seine Pforten.
Das Oberlinhaus der Evangelischen Kirchengemeinde schloss im September 2013 seine Pforten. © Gero Helm / FUNKE Foto Services
picturegallery-453829_1682104.jpg
© Gero Helm / FUNKE Foto Services
In unmittelbar Nachbarschaft eröffnete jetzt der neue, farbenfroh gestaltete Oberlin-Kindergarten.
In unmittelbar Nachbarschaft eröffnete jetzt der neue, farbenfroh gestaltete Oberlin-Kindergarten. © Gero Helm / FUNKE Foto Services
picturegallery-453829_1682084.jpg
© Gero Helm / FUNKE Foto Services
Martina Pöppinghaus lebt seit 13 Jahren mit ihrer Familie in der Straße.
Martina Pöppinghaus lebt seit 13 Jahren mit ihrer Familie in der Straße. © Gero Helm / FUNKE Foto Services
picturegallery-453829_1682086.jpg
© Gero Helm / FUNKE Foto Services
picturegallery-453829_1682087.jpg
© Gero Helm / FUNKE Foto Services
picturegallery-453829_1682088.jpg
© Gero Helm / FUNKE Foto Services
picturegallery-453829_1682089.jpg
© Gero Helm / FUNKE Foto Services
picturegallery-453829_1682090.jpg
© Gero Helm / FUNKE Foto Services
picturegallery-453829_1682091.jpg
© Gero Helm / FUNKE Foto Services
picturegallery-453829_1682092.jpg
© Gero Helm / FUNKE Foto Services
picturegallery-453829_1682093.jpg
© Gero Helm / FUNKE Foto Services
picturegallery-453829_1682100.jpg
© Gero Helm / FUNKE Foto Services
1/22

Diesen Platz haben längst auch andere Häuslebauer für sich entdeckt. Immer mehr der alten Zechenhäuser sind in den letzten Jahren abgerissen worden. „Es gibt immer mehr Neubauten. Früher saßen die Menschen vor den Häusern und hielten ein Pläuschchen. Das sieht man gar nicht mehr“, bedauert Gudrun Freisfeld, die seit über 40 Jahren in einem der rar gewordenen historischen Gemäuer daheim ist. „Das Historische der Straße verschwindet. Das Deutsche Reich ist zur Neubaugegend geworden. Schade.“

Oberlin-Kindergarten ist ein Quell täglicher Freude

Auch die Tage des Oberlinhauses im Deutschen Reich sind gezählt. Das altehrwürdige Gebäude ist verwaist. Der Förderverein, der 2005 die Trägerschaft über das ehemalige Gemeindehaus übernommen hatte, konnte die jährlich anfallenden Unterhaltskosten nicht mehr stemmen. Im verwitterten Aushang wird für ein Oldie-Konzert Reklame gemacht: Es stieg im Februar 2013. Umso farbenprächtiger leuchtet nebenan der kürzlich eröffnete Oberlin-Kindergarten: ein Schmuckstück und Quell täglicher Freude. Für die Kinder. Für die Eltern. Für die Nachbarn.

Auch der weitere Weg durch das Deutsche Reich verströmt Heimeligkeit, Geborgenheit, Zufriedenheit. Die Eingangstüren der schmucken, mitunter noch nagelneuen Eigenheime: liebevoll dekoriert. Die Vorgärten: aufwendig bepflanzt und geschmückt. „Jesus sagt: Ich bin das Licht der Welt“, prangt auf einem Plakat im Schaukasten der Stadtmission Werne. Hier, so spiegeln die Häuser wider, ist ganz viel Licht und wenig Schatten. Beim Werner Hähnchen-Grillhaus geht’s von der stillen Nebenstraße zurück auf den geschäftigen Werner Hellweg. Das Deutsche Reich liegt hinter uns.

Kohlen-Kolonie „Deutsches Reich“ war Schmelztiegel vieler Zuwanderer 

Wie im Text erwähnt, handelt es sich beim „Deutschen Reich“ um eine 1875 fertiggestellte Kolonie der Harpen AG. Der Name deutet womöglich auf die Reichsgründung 1871 hin. Eine andere Deutung geht davon aus, dass er gewählt wurde, weil in dieser Siedlung Menschen wohnten, die Mitte des 19. Jahrhunderts aus vielen Gebieten des Deutschen Reiches ins Ruhrgebiet und auch nach Werne kamen. Die Industrialisierung mit ihren abertausend Arbeitsplätzen versprach Lohn & Brot für die oftmals verarmte Landbevölkerung, die vor allen aus den Ostprovinzen ins „schwarze Revier“ zog.

Die 1968 stillgelegte Großschachtanlage Robert Müser war zum Schluss das bedeutendste Steinkohlen-Bergwerk in Bochum-Werne. Die Zeche entstand in den 1920er Jahren als Verbundbergwerk aus älteren, bis dahin selbstständig betriebenen Anlagen der Harpener Bergbau AG: Zeche Heinrich Gustav, Zeche Caroline, Zeche Vollmond, Zeche Amalia und Zeche Prinz von Preußen.