Grimma/Lüttich. . Tony Martin ist der Hoffnungsträger einer gebeutelten Branche. Er hat das Format und die Klasse, um dem deutschen Radsport zu altem Glanz zu verhelfen. Vor der Tour de France 2012 überraschte er mit der Aussage: „In fünf Jahren möchte ich um den Gesamtsieg mitfahren.“
Tony Martin gilt als Radprofi der Zukunft. Einer von den jungen Deutschen, sympathisch, offen, unverbraucht, höchst erfolgreich und frei von Doping-Affären. Kurz: Der Hoffnungsträger einer gebeutelten Branche, die auf bessere Zeiten hofft und noch immer wehmütig auf die „Vor-Dopingbeichten-Zeit“ ihrer deutschen Radhelden zurückblickt. Keine Frage: Dieser 27 Jahre alte Sportler hat die Klasse und das Format, um den deutschen Radsport zu altem Glanz zu verhelfen. Am Samstag steht er in Lüttich beim Auftakt zur Tour de France am Start. Im Gespräch mit unserer Zeitung verriet er seine Ziele und überraschte dabei mit der Aussage: „In fünf Jahren möchte ich um den Gesamtsieg mitfahren.“
Deutscher Meister im Einzelzeitfahren
Am vergangenen Wochenende gewann Martin leichtfüßig und mit großem Vorsprung den nationalen Titel im Einzelzeitfahren. Da wirkte er richtig tiefenentspannt. Keine Spur von Stress wenige Stunden vor der Prüfung gegen die Uhr. Der Ausflug zur DM ins Leipziger Braunkohlegebiet war wie eine Zeitreise in die Vergangenheit für Tony Martin.
Auch interessant
Dort, wo sich riesige Schaufelbagger durch die Landschaft fressen, wo die ehemaligen Abbaugebiete geflutet werden und Wassersportgebiete so groß wie der Chiemsee entstehen, dort hatte er ein Heimspiel. Hände schütteln, Autogramme geben, die Eltern waren da, die Oma, Freunde. Auch wenn Tony Martin seit einigen Jahren in Kreuzlingen auf der ziemlich exklusiven Schweizer Seite des Bodensees wohnt und zuvor in Eschborn zu Hause war: Für die Radsport-Fans aus dem Osten Deutschlands ist Martin einer von ihnen. Ein Star ohne Allüren, ein Sportler zum Anfassen. Vor 27 Jahren kam er in Cottbus auf die Welt, in Erfurt ging er aufs Sportinternat.
Martins Karriere: Bislang ohne Pannen und Rückschläge
Die zügige Fahrt ins Rampenlicht des Profiradsports verlief bislang wie am Schnürchen, ohne Pannen und Rückschläge. 2009 Einstand bei der Tour, dann zweimal WM-Bronze im Einzelzeitfahren und als vorläufige Krönung der WM-Titel im Vorjahr in Kopenhagen. Er gewann die Etappenfahrt Paris – Nizza, bestätigte seine exponierte Stellung mit bemerkenswerten Erfolgen. Wäre da nicht dieser Sturz gewesen. Anfang April krachte er im Training in der Schweiz in ein Auto. Was in Profi-Kreisen lapidar als „Bodenprobe“ abgetan wird, entpuppte sich als schwerer Crash. Kiefer- und Jochbeinbruch. Zehn Tage später saß er wieder auf dem Rad. Am 1. Mai fuhr er auf Rang vier in Frankfurt. Der Begriff „Wunderheilung“ machte die Runde.
Und was sagt Tony Martin dazu? „So eine Zwangspause kann auch mal ganz gut sein. Offenbar muss man nicht das ganze Jahr Vollgas fahren, um in Topform zu sein.“ Den letzten Form-Check bei den deutschen Meisterschaften bestand er zumindest mit Bravour, fand sogar noch Zeit, an seiner Position herumzuschrauben. „Er ist gefahren wie ein Moped“, meinte sein langjähriger Berater Jörg Werner. Das gilt in der Szene als allerhöchste Anerkennung.
Wiggins und Cancellaradie großen Konkurrenten
Tony Martin wirkt dennoch bescheiden, wenn es um seine Ziele geht. Die Rolle des extrovertierten Lautsprechers passt nicht zu ihm. „Die Gesamtwertung spielt für mich keine Rolle“, betont er, der bei seiner vierten Tour-Teilnahme in diesem Jahr ganz auf die drei Zeitfahren setzt. „Der Prolog ist zu kurz, aber in den beiden langen, schweren Zeitfahren will ich gewinnen. Und wenn nach dem ersten Zeitfahren auf der neunten Etappe das Gelbe Trikot mit abfällt, wäre das umso schöner.“
Dabei weiß Martin genau, dass zwischen ihm und seinen beiden Zeitfahr-Kontrahenten Bradley Wiggins und Fabian Cancellara nur minimale Unterschiede liegen: „Ein kleiner Fahrfehler auf 50 km reicht, um zu verlieren.“
Sein Manko ist dasHochgebirge – bisher
Sein Tour-Traum ist nicht aufgehoben, nur aufgeschoben. „In fünf Jahren will ich bei der Tour um den Gesamtsieg mitfahren. Ich habe keinen Grund zur Eile. Der Körper entwickelt sich ja noch“, erklärt der 27-Jährige, dessen Manko bei der Tour eindeutig das Hochgebirge ist. Zumindest bislang. Könnte sich ja noch ändern.
Man habe beim Giro gesehen, dass die Rennen im Gebirge wieder menschlicher werden, dass auch die Top-Leute Schwächen zeigen. Das sei ein gutes Zeichen, so Tony Martin. Was er damit sagen will ist klar: Die Zeiten des zügellosen Dopings, bei dem die Stars wie am Gummiband aufgezogen die Berge hochstürmten, sind vorbei.
Eine bemerkenswerte Aussage. Auch Cadel Evans, der introvertierte Australier, gewann im Vorjahr die Tour de France erst im hohen Sportleralter von 34 Jahren. Tony Martin hat also wirklich noch etwas Zeit.