Dortmund/Bochum. Agit Kabayel boxt am Samstag in seiner Heimatstadt um den EM-Titel im Schwergewicht. Hinter dem Bochumer liegen drei komplizierte Jahre.

Es ist ein sonniger Samstagmorgen. Doch in der Spielbank Hohensyburg in Dortmund sind die Blicke finster. Agit Kabayel und sein Kontrahent Agron Smakici sind nicht zum Spielen da. Sie sollen sich angucken. Möglichst grimmig. Böse gucken gehört zum Geschäft. Face to Face, Staredown heißt es, wenn sich Boxer vor ihrem Kampf anstarren, um die Werbetrommel zu rühren und sie mit ihren Blicken klarmachen: Freunde werden wir im Ring nicht sein. Kabayel und Smakici lassen keinen Interpretationsspielraum: Im Kampf um den Titel als Schwergewichtseuropameister wird es am Samstag im Ruhrcongress in Bochum keinen Austausch von Nettigkeiten geben. Doch als die Kameras ausgeklickt haben, verschwindet der finstere Blick, da gibt es statt Schlägen Schulterklopfer. Das eine ist die Inszenierung, das andere der echte Respekt zweier Boxer voreinander.

„Alle Menschen, die ich in der Boxwelt kennengelernt habe, haben ein gutes Herz“, sagt Agit Kabayel. „Da lernt man von Anfang an Respekt und Disziplin.“ So hart sein Blick eben noch war, so zugewandt und offen ist er im Gespräch. Seine Stimme ist freundlich, sie will nicht so ganz passen zu der massigen Gestalt des Schwergewichtsboxers. Der 30-Jährige aus dem Boxstall SES ist kein Lautsprecher, kein Sprücheklopfer. Viel zu erzählen hat er dennoch.

„Die Coronakrise war eine sehr, sehr schwierige Zeit“

Agit Kabayel blickt über den Rand des Boxrings hinaus. Leidenschaftlich kann er sich über auf Smartphones starrende Jugendliche aufregen („Tiktok wird die Jugend verblöden“). Nachdrücklich fordert er Größen wie Henry Maske zu mehr Einsatz im Boxsport auf („Ihr habt so viel Geld damit verdient, gebt der Jugend was zurück, setzt euch für das Boxen ein“). Und er weiß auch um seine Rolle: „Ich bin jetzt schon lange dabei, ich lasse die Leute in den Sozialen Medien an meinem Alltag teilhaben. Ich will zeigen, dass auch Leute mit Migrationshintergrund die deutsche Flagge hochhalten können.“ Seine Familie stammt aus dem kurdischen Teil der Türkei. Seinen Kampf will er nutzen, „um den Menschen nach dem schweren Erdbeben Hoffnung zu geben“.

Agit Kabayel (rechts) beim Sparring für den EM-Kampf.
Agit Kabayel (rechts) beim Sparring für den EM-Kampf. © imago | imago

Hinter dem Bochumer, der in Düsseldorf trainiert, liegen drei komplizierte Jahre, die er mit einem Sieg in seinem Heimspiel endgültig hinter sich lassen will. „Die Coronakrise war eine sehr, sehr schwierige Zeit für mich“, sagt Kabayel. „Aber sie hat mich auch zu dem gemacht, der ich heute bin – sie hat mich zu einem Mann gemacht.“

Dieser Mann kommt mit einer Bilanz von 22 Siegen in 22 Profikämpfen – und will die Chance ergreifen, wieder ins Rampenlicht der großen Boxbühnen zurückzukehren. „Ich bin bereit“, sagt er. Und sein Trainer Sükrü Aksu betont: „Ich kenne keinen, der so hart trainiert wie Agit – und ich kenne viele. Er ist sehr, sehr ehrgeizig. Er hat ein klares Ziel vor Augen. Er will Weltmeister werden.“ Ein Sieg im EM-Kampf würde die Chancen erhöhen.

Sparringspartner von Tyson Fury

Agit Kabayel war schon einmal auf dem besten Weg dahin. Schon 2016 war er Sparringspartner von Weltmeister Tyson Fury als dieser gerade Wladimir Klitschko alle WM-Gürtel abgenommen hatte. „Wir haben uns ordentlich auf die Köpfe gehauen, manch einen Anfang-20-Jährigen hätte das sicher umgehauen.“ Aber Kabayel hielt stand. „Da war das Eis gebrochen, wir haben für den Moment so etwas wie eine Freundschaft entwickelt, er hat mir auch Tipps für meinen Kampf gegeben.“

Wer hat den grimmigeren Blick? Die Gegner Agit Kabayel (links) und Agron Smakici am Mittwoch.
Wer hat den grimmigeren Blick? Die Gegner Agit Kabayel (links) und Agron Smakici am Mittwoch. © Instagram | Instagram

Auch Europameister war Agit Kabayel schon. 2017 trat er in die Fußstapfen von Größen wie den Klitschko-Brüdern. Dreimal verteidigte er den Titel. 2019 jedoch gab er ihn ab. „Das war nicht freiwillig“, sagt er. „Aber ich bekam das Angebot von ESPN, in die USA zu gehen.“ Boxen in Amerika – das war sein Traum. „Übers Meer, das ganz große Ding, Madison Square Garden. Ich sollte in New York mein Debüt geben.“ Doch dann: Coronapandemie. „Da stand ich da: Amerika geplatzt, Titel niedergelegt. Ich war wieder bei Null.“ Ihm blieben während Corona nur drei Kämpfe – ohne Zuschauer. „Die sind kein Maßstab für das, was ich eigentlich kann“, sagt Kabayel.

Aufgewachsen mit Leroy Sané

Doch er gab nicht auf, er ist ein Kämpfer: „Das ist dieses Malocherding“, sagt er und grinst. Der gelernte Gleisbauarbeiter ist in Wattenscheid aufgewachsen. Noch heute lebt er dort mit seiner Familie – „ganz bodenständig“. Mit Bayern-Star Leroy Sané kickte er früher auf dem Bolzplatz, heute tauschen sich beide nach guten Leistungen noch kurz aus. „Ich habe früh gelernt, dass die, die ganz oben stehen, auch am arbeiten sind“, sagt er und präzisiert, wie man es nur im Ruhrgebiet hört: „am machen, am tun sind“. Er war bereit, jeden Tag Vollgas zu geben. „In mir wuchs der Wunsch, den Titel wieder nach Hause zu holen.“ Wo ginge das besser als vor voller Halle in seiner Heimatstadt?

Etwas dagegen hat natürlich Agron Smakici. Der 32-jährige Kroate hat mit Deutschland noch eine Rechnung offen. Drei Jahre lebte er in Hamburg, hoffte auf den Durchbruch. Doch nach einer überraschenden Niederlage verlor er seinen Vertrag. Aus eigener, auch finanzieller Kraft arbeitete er sich zurück, ergatterte den EM-Kampf. „Den Titel hole ich mir“, sagt er am Mittwoch. „Auch als Genugtuung für meine doch schlechteren Erfahrungen als Boxer in diesem Land. Es wird mein Comeback in Deutschland.“ Und da ist er wieder: der böse Blick.