Winterberg. Die Leichtathletin will es als Anschieberin zu den Olympischen Winterspielen schaffen. Der Haken: Burghardt saß noch nie in einem Bob.
René Spies grübelt für einen kurzen Moment. Ob es einen derartigen Versuch jemals gab? Spies, ehemaliger Bobpilot und mittlerweile Cheftrainer der deutschen Eiskanal-Rennfahrer, schüttelt anschließend den Kopf. „Ich wüsste es nicht“, antwortet er – und schmunzelt. Weil er weiß, wie verrückt, wie waghalsig diese Idee ist, die sogar er selbst als „Harakiri-Aktion“ bezeichnet. Alexandra Burghardt, die Sprinterin, die bei Olympia in Tokio nur knapp das Finale über 100 Meter verpasste, spielt dabei die Hauptrolle – eine nicht unumstrittene allerdings.
Der Grundgedanke ist zunächst gar nicht so überraschend. Sprinterinnen, die aus der Leichtathletik als Anschieberin zum Bobfahren wechselten, gibt es wie Eis im Eiskanal. Fast jede Karriere auf dieser Position im Bob begann auf einer Laufbahn. Die Trainer am Olympiastützpunkt in Winterberg im Hochsauerland bedienen sich seit Jahren eines engmaschigen Sichtungsnetzes, unter anderem im Ruhrgebiet, das zum Beispiel die derzeit verletzte Top-Anschieberin Annika Drazek vom TV Gladbeck hervorbrachte.
Fall Alexandra Burghardt ist sehr speziell
Der zweite Blick jedoch entlarvt, wie speziell der Fall Alexandra Burghardt ist. Denn die 27-jährige amtierende Deutsche Meisterin will keinesfalls komplett die Sportart wechseln. Sie plant lediglich eine bis zu den Olympischen Winterspielen in Peking (4. bis 20. Februar 2022) zeitlich begrenzte Stippvisite. „Ich weiß, sie möchte es unbedingt“, erklärt René Spies, „und jetzt geht es darum, einen für alle sinnvollen Fahrplan zu erstellen, um sie vielleicht bis zu den Olympischen Spielen und auf einen der Schlitten zu bringen.“
Damit beginnt die Idee jedoch kompliziert zu werden, schließlich dürfen nur drei deutsche Frauen-Schlitten bei den Winterspielen starten. Alexandra Burghardt, die mit einer persönlichen Bestzeit von 11,01 Sekunden über 100 Meter aktuell schnellste Deutsche, könnte also den Traum einer Anschieberin, die jahrelang auf Olympia hingearbeitet hat, platzen lassen.
Alexandra Burghardt beim Leistungstest auf Platz
Beim zentralen Leistungstest in Oberhof rangierte sich Burghardt kaum überraschend auf Platz zwei ein. Vor ihr lag lediglich Deborah Levi, die mit ihrer aus Unna stammenden und in Dortmund lebenden Pilotin Laura Nolte vom BSC Winterberg bereits für den Weltcup gesetzt und für Olympia vornominiert ist. Platz drei hinter Burghardt belegte mit einem Rückstand von ungefähr einer Zehntelsekunde Leonie Fiebig (BSC Winterberg). Als sie von der neuen Konkurrentin hörte, sagt Fiebig, „ist mir das Herz im ersten Moment schon etwas in die Hose gerutscht. Ich bin im Sommer 12,24 Sekunden über 100 Meter gelaufen, sie kommt mit einer Bestzeit von 11,01 Sekunden.“ Dass sich dies auch auf der kürzeren Anschubdistanz auswirke, sei logisch. Doch ob die Leichtathletin vom vom SV Wacker Burghausen tatsächlich zu den Winterspielen fährt, ist noch offen. Spies sagt: „Es gibt noch viele Fragezeichen.“
In einem Bob saß die Sprinterin noch nie
Der vielleicht komplizierteste Teil der tollkühnen Idee: Das Bobfahren. Denn in einem Bob saß Alexandra Burghardt noch nie. Die hohen Geschwindigkeiten, die immensen Kräfte, die in den Kurven auf sie wirken – all das wird Neuland sein, wenn sie voraussichtlich im Oktober ihre Premiere erlebt.
Alexandra Burghardt äußert sich auch auf Nachfrage übrigens nicht zu ihrem Ausflug in den Bobsport. Sie möchte zuvor die ersten Fahrten hinter sich bringen. Denn wer weiß, vielleicht verträgt sie die rasante Kurvenhatz bergab gar nicht. Eine höchst interessante, aber waghalsige Idee könnte dann schneller als erwartet zum gescheiterten Experiment werden.