Berlin. Ein Experiment zeigt: Anschläge durch flüchtigen Hautkontakt auf Aktive wären möglich. Kontrollsystem gerät ins Wanken.

Angst vor einem Erdbeben und dem Ende des professionellen Sports, Ernüchterung und Zweifel am System: Die ARD-Dokumentation „Geheimsache Doping – Schuldig. Wie Sportler ungewollt zu Dopern werden können“ über mögliche Anschläge durch flüchtigen Hautkontakt hat kurz vor Olympia bei deutschen Top-Athleten für Irritationen gesorgt – und neue Fragen aufgeworfen.

Ein „Erdbeben“ in der Sportwelt

Die frühere Speerwurf-Weltmeisterin Christina Obergföll ist sicher, dass die Erkenntnisse aus der Doku in der Sportwelt ein „Erdbeben“ auslösen werden. „Was da alles möglich wäre mit diesen neuen Erkenntnissen, das bringt das ganze System ins Wanken. Der saubere Athlet ist dem schutzlos ausgeliefert und hat keine Chance mehr, sich zu rechtfertigen“, sagte die 39-Jährige am Samstag in der ARD-„Sportschau“.

In einem Experiment der ARD-Dopingredaktion und des Instituts für Rechtsmedizin der Uniklinik Köln bekamen zwölf Probanden geringe Mengen verschiedener Anabolika mittels einer Trägersubstanz über die Haut verabreicht – durch minimale Berührungen an Hand, Nacken und Arm. Bei allen Probanden ergaben die Erstauswertungen der Proben durch das Kölner Doping-Kontrolllabor einen massiven Betrugsverdacht. Die verbotenen Substanzen waren im Experiment in Minimaldosen verabreicht worden und zum Teil schon eine Stunde nach der Applikation und bis zu 15 Tage lang nachweisbar gewesen.

Beweislast wird schwerer

Wenige Tage vor Beginn der Olympischen Sommerspiele sind die Unbescholtenen unter den Top-Sportlern damit um ein Schreckgespenst reicher: die bohrende Angst, jederzeit Opfer eines perfiden Manipulanten werden zu können. Die Umkehr der Beweislast, also die Pflicht eines auf Dopingmittel positiv Getesteten, die eigene Unschuld zu beweisen, scheint kaum noch haltbar. „Das Experiment hat bewiesen, dass ich mich sofort hinter einem Anschlag verstecken kann und jeder aktive Betrüger sagen kann, ihr habt doch das Experiment gesehen, das ist doch ganz, ganz leicht – und ich bin hier das Opfer“, sagte Speerwurf-Olympiasieger Thomas Röhler (29).

Kollision mit den Menschenrechten

Auch die deutsche Sprintmeisterin Alexandra Burghardt (27) beschäftigt das Thema sehr. „Es ist einfach im Hinterkopf“, sagte die 27-Jährige vom SV Gendorf Wacker Burghausen am Samstagabend im Aktuellen Sportstudio des ZDF. „Das ist einfach echt beunruhigend und beängstigend, diese ganze Geschichte. Ich habe für mich auch noch keinen Weg gefunden, wie ich jetzt damit groß umgehen soll“, gab die für Olympia qualifizierte Leichtathletin zu. Burghardt hatte kürzlich die 100 Meter in der Top-Zeit von 11,01 Sekunden gewonnen.

Triathlon-Star Jan Frodeno entwirft ein düsteres Zukunftsszenario. „Ohne jetzt zu apokalyptisch zu klingen, das ist ja schon für mich die Frage, ob das vielleicht auch ein Stück weit das Ende des professionellen Sports sein könnte“, betonte der 39 Jahre alte Olympiasieger und dreifache Ironman-Triumphator. Die Kollision des Sportrechts mit den Menschenrechten werde eine weltweite Debatte erzeugen, glaubt Maximilian Klein von Athleten Deutschland.

„Das ist sehr ernüchternd, es ist fraglich, wie man dann langfristig sauberen Sport gewährleisten soll, das macht mir Angst“, gestand Hockey-Olympiasieger und Kapitän Tobias Hauke (33) kurz vor dem Abflug nach Tokio in der ARD. Nach dem, was jetzt aufgedeckt wurde, müsse „man da das ganze System überdenken“, sagte Hauke. „Aber ich weiß auch nicht, wie das aussehen soll.“

Entscheidend in dieser Frage ist die Haltung der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada. Und die gibt sich betont gelassen. Die Möglichkeit, Dopingsubstanzen über kurze Hautkontakte zu übertragen, sei „gut bekannt“, heißt es in einem Statement vom Samstag. Eine solche Handlung werde als „sehr seltenes Ereignis betrachtet, basierend auf der geringen Anzahl solcher Fälle, die in der Vergangenheit aufgetreten sind“.

Auch die Nationale Anti-Doping-Agentur sieht sich vor neuen Herausforderungen. „Wir wollen anpacken und Lösungsansätze präsentieren. Sabotageakte sind kriminelle Handlungen, da haben wir schon seit Jahren versucht, mit staatlichen Ermittlungsstellen zusammenzuarbeiten und dort schärfere Schwerter zu bekommen“, erklärte Nada-Vorstand Lars Mortsiefer. Er sehe da eine „Verunsicherung der Athleten und Athletinnen“ – und Handlungsbedarf. (dpa/sid)