Essen. Armin Hary lief als erster Mensch die 100 Meter in 10,0 Sekunden und holte heute vor 60 Jahren bei den Olympischen Spielen in Rom Gold.

Als Armin Hary am 1. September 1960 das Olympiastadion in Rom betrat, begrüßte er die 100.000 Zuschauer, indem er seine Spikes mit einem Lachen in die Menge hielt. Ein grobkariertes Cowboyhemd unter der locker übergeworfenen Trainingsjacke und ein großer Strohhut auf dem blonden Schopf – auch dies Zeichen des Protests gegen jegliche Uniformierung. Dieser 23-Jährige aus dem Saarland ließ sich nie in ein Schema pressen.

Von Nervosität vor dem Höhepunkt der Leichtathletik-Wettkämpfe dieser Olympischen Spiele 1960, dem Finale über 100 Meter, keine Spur. Hary strotzte vor Selbstbewusstsein, schließlich hatte er wenige Wochen zuvor in Zürich Sportgeschichte geschrieben, als er als erster Mensch die 100 Meter in 10,0 Sekunden gelaufen war. Einige Experten waren vor Olympia skeptisch, ob der „blonde Blitz“, wie der heute 83-jährige Hary genannt wurde, die starken US-Amerikaner David Sime und Ray Norton wirklich auf Distanz halten könnte.

Reaktionsschnelligkeit als großes Plus

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Die Kunst des Sprintens ist, die perfekte Balance zu finden zwischen Explosivität und Lockerheit. Wer nur mit Urkraft und hochgezogenen Schultern die Bahn herunter trommelt, hat keine Chance gegen leichtfüßige Ästheten wie den jamaikanischen Weltrekordler Usain Bolt und seinen deutschen Vorgänger Armin Hary.

Während der lang aufgeschossene Jamaikaner Bolt erst auf der zweiten Hälfte ins Rollen kam, war Harys größtes Plus seine herausragende Reaktionsschnelligkeit. Er war als blitzartig Startender bekannt, ja geradezu berüchtigt. Der Deutsche hatte die Fähigkeit, die Atemzüge des Starters abzuschätzen und nach den Kommandos „Auf die Plätze!“ und „Fertig!“ in den Schuss zu fallen, die einzigartig war.

Hary blieb trotz Fehlstart cool

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Im Gegensatz zu heute, wo der erste Fehlstart eines Läufers zur sofortigen Disqualifikation führt, war jedem Sprinter ein Fehlstart erlaubt. Manches Mal war Hary zu fix aus den Blöcken. So auch im olympischen 100-Meter-Finale, obwohl er selbst immer erzählte, dass der ihm zugeschriebene Fehlstart regelkonform gewesen sei. Aber Hary ließ sich durch die Entscheidung des Starters nicht aus dem Konzept bringen. In 10,2 Sekunden raste er in Rom als Erster vor David Sime (10,2) und dem Briten Peter Radford (10,3) ins Ziel: Zum ersten Mal wurde ein Deutscher Olympiasieger über 100 Meter. Bis heute hat ihm dies keiner nachgemacht.

„Wenn ich 100 werde, hat sich mein ganzes Leben um die eins und die null gedreht“, sagte Armin Hary dieser Zeitung anlässlich seines 80. Geburtstages vor drei Jahren. „Der Olympiasieg ist mir wichtiger als der Weltrekord. Eine Goldmedaille bleibt einem bis in Ewigkeit.“ Aber noch lieber wäre er nicht 1960, sondern heute Olympiasieger. „Das könnte man doch ganz anders vermarkten“, sagte er.

Mit 24 Jahren ist schon Schluss

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Zu seiner aktiven Zeit galten noch strengste Amateurregeln. Mit drastischen Folgen für Hary. Weil er Spesen in Höhe von 70 Mark ein Jahr nach seinem Triumph in Rom nicht meldete, wurde er für neun Monate gesperrt. Da er sich bei einem Autounfall das Knie verdreht hatte, hängte Armin Hary 1961 die Spikes an den Nagel. Mit 24 Jahren.

„Ich hatte doch alles erreicht“, sagte er später. Doppel-Europameister 1958, Weltrekord 1960 und als Krönung der olympische Doppelschlag in Rom. Denn nach dem Gold über 100 Meter hatte Armin Hary auch seine deutschen Staffelkollegen Bernd Cullmann, Walter Mahlendorf und Martin Lauer zum Olympiasieg in der Weltrekordzeit von 39,5 Sekunden geführt.

Hary fliegt zum Staffelgold auf roter Asche

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Dieses Staffelrennen 1960 in Rom sei seine größte Leistung gewesen, sagte Hary später. Für die 100 Meter fliegend habe man 9,0 Sekunden gestoppt. Und das nicht etwa auf einem High-Tech-Belag, sondern auf roter Asche.

In der Staffel konnte es auch keine Diskussionen über einen vermeintlichen Fehlstart Harys geben, weil er als zweiter Läufer auf der Gegengeraden eingesetzt war. Heute verschaffen ohnehin Computer Gewissheit, ob ein Sprinter zu früh die Blöcke verlässt. Die Kampfrichter hatten damals keinerlei akustische Hilfsmittel und waren auf den Augenschein angewiesen. „Man war ihnen schon ausgeliefert“, sagte er in einem FAZ-Interview. „Sportwissenschaftliche Untersuchungen, die damals mit mir in Freiburg gemacht wurden, bestätigten, dass ich wirklich eine besondere Reaktionsschnelligkeit hatte und nicht zu früh losrannte.“

Kein Nationalheld

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Für viele Leichtathletik-Fans war er vor 60 Jahren ein Wundersprinter, eine Lichtgestalt, doch für die deutschen Funktionäre war er ein arroganter Schnösel. Hary war trotz seiner riesigen Erfolge kein Nationalheld. Er war rebellisch und eigensinnig. Ob er ein Sturkopf gewesen sei, wurde er vor drei Jahren in der „Welt“ gefragt. „Ich war weder das noch arrogant oder ein Querulant. Ich war davon überzeugt, alles zu packen“, antwortete Hary. „Warum sollte ich etwas tun, was mir andere oktroyieren. Ich war ein Revolutionär, der seine eigenen Wege ging.“

Immerhin führten diese Wege Armin Hary zum Weltrekord und Olympiasieg.