Essen. Willi Holdorf ist mehr als nur Deutschlands erster Zehnkampf-Olympiasieger. Seine Art hat begeistert. Der Sport trauert. Ein Nachruf.

Als Willi Holdorf zur Sport­legende wurde, war er völlig am Ende. Im abschließenden 1500-Meter-Rennen des Zehnkampfes bei den Olympischen Spielen 1964 in Tokio lief, nein: taumelte er die letzten Meter bis ins Ziel. Auf den Schwarzweißbildern ist zu sehen, wie sein ganzer Körper sich gegen die Anstrengung wehrte. Aber Willi Holdorf zwang ihn. Es reichte. Mit sieben Sekunden Vorsprung vor dem Esten Rein Aun. Im Ziel brach Willi Holdorf zusammen, musste von seinen Konkurrenten gestützt werden. Erst als sein Trainer ihm zulächelte, wusste der 24 Jahre alte Athlet des TSV Bayer 04 Leverkusen: Er ist der erste deutsche Zehnkampf-Olympiasieger. Der König der Athleten.

Willi Holdorf ist Olympiasieger - doch er hat sich im abschließenden 1500-Meter-Rennen verausgabt und muss gestützt werden.
Willi Holdorf ist Olympiasieger - doch er hat sich im abschließenden 1500-Meter-Rennen verausgabt und muss gestützt werden. © imago images/Horstmüller | imago sportfotodienst via www.imago-images.de

Willi Holdorf erzählte später einmal, er habe in diesen quälenden letzten Sekunden an seinen Sohn gedacht. „Der sollte später nicht sagen müssen: ,Mein Vater hätte Olympiasieger werden können, aber er war zu schlapp’.“ Auch solche Sätze gehören zur Legende von Willi Holdorf. Doch seine Geschichte müssen nun andere erzählen. Willi Holdorf ist am Sonntag nach schwerer Krankheit im Alter von 80 Jahren in Achterwehr bei Kiel gestorben.

Busemann: „Willi war immer mein Held“

Frank Busemann trifft die Nachricht wie ein Schlag. Im Gespräch mit dieser Redaktion erfährt der ehemalige Zehnkämpfer aus Recklinghausen am Montagmittag vom Tod des Olympiasiegers. „Willi war immer mein Held. Er hat mit seinem Olympiasieg im Zehnkampf das geschafft, was alle wollen“, sagt Buse­mann mit hörbar bewegter Stimme. „Aber er ist immer Mensch geblieben. Er hat sich nie über die Dinge gestellt, ist einem immer auf Augenhöhe und nie herablassend begegnet“, sagt der Olympia-Zweite von 1996. „Er wird mir und dem Sport als Persönlichkeit fehlen.“

Zwar war der 45-Jährige 1964 noch nicht geboren, doch die Bilder von Holdorfs Lauf und vom Siegerpodest, auf dem er fast noch gestürzt wäre, bewegen Buse­mann noch immer. „Kämpfen bis zur absoluten Erschöpfung – da sieht man die Seele des Zehnkampfes. Wenn ich ein Vorbild hatte, dann war es immer Willi. Er hatte das Herz am rechten Fleck, den Kampfgeist und die Leidenschaft.“

Von der Leichtathletik bis zur Fußball-Bundesliga

Willi Holdorf war mehr als sein Olympiasieger. Er war ein aufgeschlossener, interessierter Charakter – der über viele Begabungen verfügte und auf bodenständige Art für Bewunderung sorgte. Bevor er als Teenager zur Leichtathletik kam, spielte der im 500-Seelen-Ort Blome­sche Wildnis bei Glückstadt in Schleswig-Holstein aufgewachsene Holdorf Fußball und Handball.

Ursprünglich wollte er Elektro-Ingenieur werden, entschied sich dann aber für ein Sport-Studium. Nach seinem Olympiasieg beendete er mit 24 Jahren seine Leichtathletik-Karriere – es galt, eine Familie zu versorgen. Sport war damals eher ein Hindernis denn eine Einnahmequelle.

Auch das war Willi Holdorf - als Trainer des Fußball-Bundesligisten Fortuna Köln (r.) mit mit Hans-Günter Neues (li.) und Wolfgang Fahrian.
Auch das war Willi Holdorf - als Trainer des Fußball-Bundesligisten Fortuna Köln (r.) mit mit Hans-Günter Neues (li.) und Wolfgang Fahrian. © imago images/Horstmüller | imago sport

Doch dank seiner vielen Talente erlebte Holdorf eine Sportler-Karriere, die gleich mehrere Leben hätte füllen können: Er coachte den Stabhochspringer Claus Schiprowski 1968 zu Olympia-Silber. Und weil Holdorf immer ein guter Sprinter gewesen war, stieg er als Anschieber in den Bob, gewann 1973 EM-Silber mit Horst Floth. 1974/75 übernahm er sogar den Trainerposten in der Fußball-Bundesliga – auf Anfrage des 54er-Weltmeistertrainers Sepp Herberger, mit Ausbildung von Hennes Weisweiler. Doch Holdorfs Zeit bei Fortuna Köln blieb erfolglos – nach 14 Spielen stand der Abstieg fest. Der ruhige Norddeutsche nahm die Dinge, wie sie kamen. „Er war ein Tausendsassa, der immer seinen eigenen Kopf hatte“, sagt Busemann.

Dem Sport immer verbunden

Willi Holdorf half sogar dem THW Kiel als einer von fünf Gründungs-Gesellschaftern beim Aufstieg zur Handballgröße. „Willi war ein toller Sportsmann und ein sehr guter Unternehmer – und für mich ist er einer der wenigen, die das beides geschafft haben. Er war mein Idol“, sagt auch Christian Schenk (55), der 1988 Zehnkampf-Olympiasieger für die DDR wurde.

Der Sport hat Willi Holdorf, der mit seiner Frau Sabine Holdorf-Schust in ländlicher Idylle lebte und in den vergangenen Jahren zwei Schlaganfälle erlitt, nie losgelassen. Durch seinen Job als Repräsentant einer großen Sportartikel-Firma konnte er der geliebten Leichtathletik lange hinterher reisen, auch den Erfolg von Überraschungsweltmeister Niklas Kaul 2019 verfolgte er mit Begeisterung. „Wenn man mit dem Zehnkampf anfängt, dann gibt es ein paar große Namen. Willi Holdorf stand da ganz, ganz oben“, sagte der 22 Jahre alte Mainzer am Montag voller Hochachtung. „Man konnte sich mit ihm über viele Dinge sehr gut unterhalten.“

Begeisterung nie verloren

Frank Busemann, den ein freundschaftliches Verhältnis zu Willi Holdorf verband, erinnert sich an viele Begegnungen. Eine Szene sei besonders hängen geblieben. Kurz nach Busemanns Olympiasilber in Atlanta traf er sein Idol. Er sprach ihm seine Bewunderung aus. Willi Holdorf winkte ab: „Ach, was! Ich hab‘ doch gar keine Ahnung von Zehnkampf. Das, was du leistest, das ist stark.“ Busemann sagt bewegt: „Er hat seine Bewunderung für andere nie verloren – obwohl er der Olympiasieger war.“

Willi Holdorf wäre gerne 2021 noch einmal nach Tokio gereist, um seinen Nachfolgern zuzusehen. Doch die Geschichte muss nun ohne ihn fortgeschrieben werden.