Essen. Er war ein Wimbledon-Pechvogel, ein großer Becker-Rivale und ein Tennis-Buddhist: Am Samstag wird Tennis-Legende Ivan Lendl 60 Jahre alt.
Zugegeben, es gibt schmeichelhaftere Spitznamen als „Ivan, der Schreckliche“. Aber so einen Ruf muss man sich in Tenniskreisen erst einmal erarbeiten. „Ich fand das nicht lustig, ich war einfach nur sehr konzentriert“, beschwerte sich Ivan Lendl einmal über seinen Ruf. An diesem Samstag feiert der einstige Tennisstar seinen 60. Geburtstag.
Dabei gab es durchaus einen anderen Ivan. Anfang der 90er-Jahre war der im tschechischen Ostrava zur Welt gekommene Lendl unter allen Top-Spielern der freundlichste, charmanteste, ja: witzigste Typ. Die Verwandlung zum Schrecklichen vollzog sich immer erst dann, wenn Ivan einen Tenniscourt betrat.
Ivan Lendl und der Fluch von Wimbledon
Die Augen zu Schlitzen, die Lippen verkniffen, die Wangen knochig, so stand er da. Marotten? Reichlich. Berühmt sein Augenbrauen-Auszupfen, wenn es eng wurde, sein Abtrocknen mit Schweißbändern, die so breit waren wie bei Frauen die Stulpen. In Australien trug er Mützen mit langem Schirm und Nackenschutz, als ginge er auf eine Wüstenexpedition. Wo andere Stars zu seiner Zeit Emotionen auslebten, ging Lendl stur seiner Arbeit nach. Niemand hätte sich gewundert, wenn er den Platz mit einer Aktentasche betreten hätte.
Aber er machte seinen Job erfolgreich, basierend auf einer tief einhändigen Rückhand und einem Treibschlag auf der Vorhand. So trieb er seine Gegner erfolgreich an der Grundlinie bis zur Ermüdung. Lendl, der fitteste von allen, wartete geduldig und zäh auf seinen Erfolg. Dreimal French Open, dreimal US Open, zweimal Australien – eine hübsche Grand-Slam-Ausbeute. Als er 2001 endlich in die Hall of Fame aufgenommen wurde, hatte er seinen US-Pass (seit 1992) längst in der Tasche. 270 Wochen lang dominierte er die Tennis-Weltrangliste.
Die Unberechenbarkeit des Grashalms
Aber eine Legende wurde er nie, dazu fehlte eine Kleinigkeit. Trotz 14 Wimbledon-Teilnahmen reichte es nur zu zwei Finals, dort standen ihm Boris Becker (1986) und Pat Cash (1987) im Weg. Die Ball-Präzisionsmaschine Lendl und die Unberechenbarkeit des Grashalms -- das passte nicht. Die ersten Jahre hatte er wegen einer angeblichen Gräser-Allergie einen Bogen um den Londoner Vorort gemacht, danach machte er sich gerne lustig: „Gräser sind etwas für Kühe.“ Wer die besonderen Gegebenheiten in Wimbledon nicht annahm, der konnte dort auch nicht gewinnen.
So erlebte Lendl „das verrückteste Tennisspiel aller Zeiten“, da ist sich Weggefährte John McEnroe noch heute sicher, nicht in London, sondern in Paris: 1989, Achtelfinale bei den French Open. Der 17 Jahre alte Michael Chang griff, von Wadenkrämpfen gepeinigt, zu einer List, die im Profibereich verpönt ist: Er schlug von unten auf. Der kühle Analytiker Lendl war völlig perplex und am Ende entnervt. Nach mehr als viereinhalb Stunden machte Chang im fünften Satz die Blamage perfekt: Bei Matchball für ihn und Aufschlag Lendl stellte er sich kühn beim zweiten Service an die T-Linie, worauf der Weltranglisten-Erste mit einem Doppelfehler die Partie verlor. Chang wurde auf dieser Welle getragen bis zum Finalsieg.
Spätes Wimbledon-Happy-End als Trainer
1994 beendete Lendl, von Rückenproblemen geplagt, seine 17-jährige Profikarriere. Fortan verschwand er aus der Szene, kümmerte sich um seine Schäferhunde und übernahm Familienpflichten bei Ehefrau Samantha und den fünf Töchtern. Nach einer erfolgreichen Rücken-OP tauchte er bei den Golfern wieder auf, wo er es mit seinem Fleiß zur Profi-Reife brachte. Einmal im Jahr schaute er bei den US Open vorbei, plauderte mit den Gegnern von damals, lieferte sich auch einige Showkämpfe mit John McEnroe. Aber 2012 feierte er ein fulminantes Comeback im Tenniszirkus als Coach von Andy Murray. Etwas runder um die Hüften und im Gesicht, zum Markenzeichen wurden eine verspiegelte Sonnenbrille und ein Gesicht wie in Stein gemeißelt. Für Lendl gab es ein spätes Happy End: Als Murray 2013 den Briten den lange ersehnten Wimbledon-Triumph schenkte und die TV-Kameras auf seinen Trainer in der Box schwenkten, zuckte es im Gesicht Lendls – der Stein erweichte.
Nicht so erfolgreich war die Zusammenarbeit von Lendl mit Alexander Zverev. Auch wenn der Deutsche das ATP-Finale 2018 gewann, war die Liaison im Sommer 2019 wieder vorbei. Der stoische Trainer mit den buddhistischen Zügen und der launische Jungstar – das passte nicht zusammen. Zverev beschwerte sich einmal sogar öffentlich, dass Lendl große Teile des Trainings mit dem Rücken zu ihm verbrachte und mehr übers Golfspielen plauderte. Der konterte verhalten mit dem Hinweis, dass es in Zverevs Umfeld nicht immer professionell zugehe. Und das war nichts für Lendls Credo: „Wenn ich hart arbeite und nicht erfolgreich bin, dann arbeite ich halt noch härter.“ So hat sich der nun 60-Jährige wieder an seinen Wohnort im US-Bundesstaat Connecticut zurückgezogen und wird den besonderen Tag womöglich mit einer Golfpartie würdigen. Oder mit seinen Schäferhunden hinausziehen, „die einzigen, die wirklich auf mich hören“, wie er einmal scherzhaft meinte. Und die ihn gar nicht so schrecklich finden.