Wattenscheid. Weil er sich im Flüchtlingsheim langweilte, begann Amanal Petros zu laufen. Sein Talent führte ihn erst nach Wattenscheid und nun nach Tokio.

Olympiateilnehmer werden im Winter gemacht. Wer bei den Sommerspielen 2020 in Tokio mit den weltbesten Sportlern mithalten will, muss jetzt schuften – und leiden. Amanal Petros vom TV Wattenscheid weiß das, und genau deshalb ist der 24-Jährige, der als einziger deutscher Marathonläufer bisher qualifiziert ist, am 2. Januar nach Kenia geflogen.

200 Kilometer pro Woche

Vier Wochen lang legt Amanal Petros für Hobbyläufer unglaubliche Strecken zurück. Über 200 Kilometer pro Woche. Und das in einer Höhe von 2400 Metern. Auch wenn die Lunge brennt, die Waden müde werden, geht es weiter über die staubigen rotbraunen Wege. In Iten laufen nicht nur Amanal Petros und sein Wattenscheider Vereinskollege Hendrik Pfeiffer. In diesem 4000-Einwohner-Dorf leben Hunderte von kenianischen Läufern. Stars ebenso wie junge Talente, die sich und ihre Familie mit Erfolgen im Läuferzirkus aus der Armut holen wollen.

Amanal Petros schätzt wie viele Spitzenläufer aus der ganzen Welt diese einmalige Atmosphäre in Iten. Vor 24 Jahren wurde Amanal Petros rund 2000 Kilometer von Iten entfernt in Eritrea geboren. Seit vier Jahren startet er für Deutschland. Ach ja, mag mancher denken, noch so ein Läufer aus Ostafrika, der aus wirtschaftlichen Gründen seine Staatsangehörigkeit im wahrsten Sinne des Wortes verkauft hat, wie es so viele Langstreckler getan haben, die jetzt für die Türkei, Bahrain oder Katar an den Start gehen.

Vor dem Bürgerkrieg in Eritrea geflohen

Weit gefehlt. Die Geschichte des Amanal Petros ist eine ganz andere, eine ganz besondere. „Ich musste mit meiner Mutter im Alter von zwei Jahren während des Bürgerkriegs aus Eritrea nach Äthiopien fliehen“, erzählt er. Mit meist leiser Stimme, aber in fließendem Deutsch. Kurz vorher war sein Vater in den Wirren des Kriegs zu Tode gekommen.

Als Amanal Petros 16 Jahre alt war, flüchtete er vor dem Bürgerkrieg nach Deutschland. Da er allein gekommen und noch nicht volljährig war, kam er in eine entsprechende Flüchtlingsunterkunft. Erst in Frankfurt, dann in Bielefeld.

Acht Kilometer im vier Minuten Schnitt

„Ich fühlte mich einsam und hatte Langeweile“, sagt Amanal Petros. Sein Rezept gegen die Langeweile? Sport. Laufen. Fußball. „Ich habe in Äthiopien Fußball gespielt und als Kind mal an einigen Laufwettkämpfen teilgenommen“, erinnert er sich. In Bielefeld schloss er sich einem Fußballverein an. Mit durchwachsenem Erfolg. Der Trainer stellte ihn ins Mittelfeld, weil er so gut laufen konnte. „Aber weder der Trainer noch ich waren zufrieden“, erzählt Amanal Petros und schmunzelt. „Du rennst zuviel und vergisst die Taktik, meinte der Coach. Ich konnte ihn verstehen. Und mich störte es, dass ich immer wieder Tritte gegen die Knochen bekommen habe.“

Statt dem Ball hinterher zu jagen, ging er joggen. Allein. Bis ihn ein anderer Läufer ansprach, ob sie nicht mal zusammen ein paar Kilometer rennen wollten. So wurde Jan Kerkmann zum Entdecker des heute besten deutschen Marathonläufers. Denn Kerkmann erkannte schnell das große Talent des Flüchtlings, der ohne zu schnaufen mal eben die acht Kilometer im Vier-Minuten-Schnitt abspulte. Nach einigen Wochen meldete sich Amanal Petros bei Kerkmanns Bielefelder Verein an. Wichtiger noch als die ordentlichen Laufschuhe vom Klub war für Amanal Petros das Gefühl, etwas wert zu sein. „Ich wollte die deutsche Sprache lernen und die Kultur kennenlernen“, sagt er.

„Wattenscheid ist meine Heimat“

Heute ist Amanal Petros ein Star in der Läufer-Szene. Seit 2015 ist er Deutscher, seit September 2017 ist er Bundeswehrsoldat in einer Sportfördergruppe. Inzwischen hat er mehrere deutsche Meistertitel, Silber und Bronze bei U23-Europameisterschaften gewonnen.

Aber sein Weg ist noch längst nicht zu Ende. Mit 24 hat er als Langstreckler, vor allem auf der Marathonstrecke, noch nicht das beste Alter erreicht. „Ich habe immer geträumt, bei Olympia starten zu dürfen“, sagt er. „Ich bin glücklich, dass ich es geschafft habe. Ich versuche, mich im Frühjahr noch über 10.000 Meter zu qualifizieren. Die Strecke würde ich bei Olympia noch lieber als den Marathon laufen.“ Dafür tut er alles. In seiner neuen Heimat. „Der TV Wattenscheid ist meine Heimat. Ich lebe im Sportinternat und fühle mich dort super wohl“, erzählt er. Der Läufer Amanal Petros hat seinen Weg gefunden.