Am Donnerstag starten die deutschen Handballer in die EM. Trotz Verletzungssorgen erwartet DHB-Präsident Andreas Michelmann viel.
Das obligatorische Grußwort in den Begleitschriften zu Veranstaltungen in seiner Stadt beendet Andreas Michelmann häufig mit den Worten: „Aschersleben ist immer einen Besuch oder eine Reise wert.“ Ein Satz, den er stets aus Überzeugung vorträgt, und der auch gar nicht gelogen ist. Die älteste Stadt Sachsen-Anhalts, eine Stunde Autofahrt von Magdeburg entfernt, ist tatsächlich ein idyllisches Fleckchen mit einem historischen Stadtkern, den Spazierwegen an der mittelalterlichen Stadtmauer entlang und vielen ansehnlichen Altbauten.
Michelmann ist seit 1994 Oberbürgermeister der Stadt, die „für unsere Größe die wohl größte Dichte an Sporthallen in Deutschland hat“, wie er stolz berichtet. Der 60-Jährige mag Sporthallen, denn als Präsident des Deutschen Handballbunds (DHB) sind sie Teil seines Lebens. Und auch bei der EM ab 9. Januar wird er in einer in Norwegen sein und die deutschen Männer bei der EM unterstützen.
Herr Michelmann: Sind Sie ein Möhrenkopp?
Michelmann: Ja (lacht).
Es ist ein alter Spitzname für die Bewohner Ascherslebens. Sie sind hier geboren und aufgewachsen.
Michelmann: Genau, und wer sich mit der Legende über die Möhrenköppe beschäftigt, der nimmt die Bezeichnung als Kompliment auf. Die Nachbarn haben die Aschersleber im Mittelalter als Möhrenköppe verspottet, weil die so viele Möhren gegessen haben. Die sollten schlau machen, glaubte man damals. Doch in Aschersleben wurden Möhren nicht nur gegessen, sondern die Bewohner der Stadt haben die Samen auch weiterverkauft und es so zu Wohlstand gebracht. Teil unserer Wesensart ist es also, cleverer zu sein, als wir aussehen (lacht).
Seit 1994 sind Sie Oberbürgermeister Ihrer Geburtsstadt. Kennen Sie die meisten der 27.000 Einwohner eigentlich persönlich?
Michelmann: Ehrlich gesagt kennen mich mehr Leute als ich sie, ich werde schon häufig angesprochen und gegrüßt. Viele Leute davon kenne ich zwar vom Sehen, aber für 27.000 Bekannte reicht es dann doch nicht.
In Aschersleben haben Sie auch 30 Jahre lang Handball gespielt, selbst als Oberbürgermeister sind Sie noch für Ihren Verein aufgelaufen.
Michelmann: Ab der zweiten Klasse haben wir viel Handball gespielt, in der DDR hatte Sport ja einen hohen Stellenwert. Ich habe noch bis 1998 weitergespielt, an mein Abschiedsspiel erinnere ich mich genau, denn es war die Eröffnung der ersten neuen Sporthalle in meiner Amtszeit. Wir haben zu diesem Anlass gegen die Olympiasieger von 1980 um Ingolf Wiegert gespielt. Danach war dann aber Schluss. 15 Jahre lang stand ich im Tor, 15 weitere am Kreis und im Abwehr-Mittelblock.
Oberbürgermeister und DHB-Präsident – wie bekommen Sie das unter einen Hut?
Michelmann: Es schon ein heftiges Programm, das man nur mit zwei guten Mannschaften stemmen kann. Die eine ist meine seit 25 Jahren gut eingespielte hier im Rathaus mit tollem Sekretariat, toller Stabsstelle und einem Stadtrat, der mir Vertrauen schenkt und weiß, dass wir hinkriegen, was wir uns vorgenommen haben. Die andere sitzt in Dortmund in der Zentrale des Deutschen Handballbunds und sorgt dafür, dass ich meine ehrenamtliche Arbeit leisten kann.
Schauen die politischen Gegner auch mal genauer hin, wenn Sie in Sachen Handball auf Reisen gehen und nicht für die Stadt unterwegs sind?
Michelmann: Das läuft eigentlich problemlos. Bis zu zehn Tage kann ich Sonderurlaub mit der Zustimmung des Stadtrats bekommen, für die Turniere der Männer und der Frauen nutze ich meinen Jahresurlaub. Eigentlich spüre ich eher Anerkennung und Stolz seitens der Stadtbewohner darauf, dass ihr Oberbürgermeister gleichzeitig auch Präsident des Deutschen Handballbundes ist.
Wie steht es vor der EM 2020 denn um den deutschen Handball?
Michelmann: Um den deutschen Handball und um den Deutschen Handballbund steht es soweit gut. Auf jeden Fall viel besser als vor zwei, vor vier oder vor sechs Jahren. Das hängt damit zusammen, dass wir die Schritte, die wir gehen wollten, auch gegangen sind. Wir haben es beispielsweise geschafft, unser Budget von einst 6,5 Millionen auf inzwischen elf Millionen Euro zu erhöhen. Wir haben eine deutlich professionellere und größere Zentrale in Dortmund, die gute Arbeit leistet, und vor allem sind wir mit unserem Flaggschiff – der Nationalmannschaft der Männer - wieder erfolgreich und international konkurrenzfähig. Bei den Frauen ist eine Entwicklung erkennbar, die soll in den nächsten Jahren weitergehen. Ich habe immer gesagt, dass wir bei Olympia 2024 vier Medaillen holen wollen, bei den Frauen und den Männern in der Halle und im Sand.
Eines der Ziele, dass DHB-Vizepräsident Bob Hanning einst ausgegeben hatte, war Olympiagold 2020. Ist das mit etwas Abstand gesehen noch realistisch?
Michelmann: Das Ziel muss immer sein, ein Turnier zu gewinnen, Stress ist es eher, wenn man beispielsweise – wie gerade bei der Frauen-WM erlebt - unbedingt Siebter werden muss. Dass die Mannschaft in der Lage ist, mit den Besten mitzuhalten, haben wir bei der EM und bei Olympia 2016 gesehen, und ja nun auch wieder bei der Heim-WM. Zumal der Modus bei Olympia ja ein anderer ist als bei einer EM oder WM, nach der Vorrunde folgt ja bereits das Viertelfinale. Von daher ist das Ziel nach wie vor erstrebenswert und realistisch, obwohl wir auch wissen, dass andere Gegner ebenso stark sind wie wir.
Die Frauen sollten 2020 ebenfalls eine Medaille holen. Allerdings haben sie sich für die Sommerspiele gar nicht qualifiziert…
Michelmann: Das erste Ziel war ja, überhaupt nach 2008 wieder zu den Sommerspielen zu kommen. Strategisch haben wir 2024 als großes Medaillen-Ziel ausgegeben.
Wie sind denn die Erwartungen an die im norwegischen Trondheim startende EM ab 9. Januar?
Michelmann: Bei der Heim-WM im vergangenen Januar haben wir nach dem Ausrutscher bei der WM 2017 und der schwierigen EM 2018 bewiesen, dass wir wieder in der Weltspitze angekommen sind. Nun wollen wir sehen, wie weit es geht. Bundestrainer Christian Prokop hat ja selbst gesagt, dass er den nächsten Schritt gehen will, und der nächste Schritt kann ja nur eine Medaille sein. Die Konstellation ist eher günstig, wir haben eine lösbare Aufgabe in der Vorrunde mit den Niederlanden, Lettland und Topgegner Spanien. In der Hauptrunde würde Kroatien als Topgegner warten. Es hätte uns auch weitaus schlimmer treffen können. Ich denke, bei der Konstellation und der Breite in der Spitze sind unsere Chancen ganz gut.
Sorgen macht allerdings die lange Verletztenliste, auf der wichtigen Position Rückraum-Mitte fehlen gleich mehrere Spezialisten.
Michelmann: Vor der EM 2016 waren vier Topspieler verletzt und da haben wir auch nicht lange rumlamentiert. Ich finde, das sollten wir so beibehalten. Dafür ist unser Kader breit genug. Aber es stimmt, generell haben wir ein Problem, Spielmacher zu entwickeln. Sonst hätte Martin Strobel als Zweitligaspieler – bei allem Respekt vor der Leistung und der Person – doch nie solch eine große Rolle bei der jüngsten WM gespielt. Wir haben immer Weltklasse-Torhüter, in Uwe Gensheimer einen Weltklasse-Linksaußen, starke Leute im Rückraum, wir haben vier tolle Kreisläufer – aber die Mitte ist unsere Problemposition. Aber Michael Kraus kannte die Handball-Welt vor der WM 2007 ja auch kaum. Mal sehen, wie Paul Drux und Marian Michalczik sich machen.
Trotzdem ist es komisch, dass Fabian Wiede von den Füchsen Berlin und Steffen Weinhold vom THW Kiel nach ihren verletzungsbedingten Absagen noch einige Bundesligaspiele absolviert haben. Was sagt das aus über das Verhältnis zwischen dem DHB und der Bundesliga?
Michelmann: Beide Spieler haben in den vergangenen Jahren bewiesen, dass sie sich sowohl für ihre Klubs als auch für die Nationalmannschaft vollkommen verausgaben. Inklusive Olympia 2016 hat Fabian Wiede beispielsweise drei große Turniere in 13 Monaten gespielt, entsprechend fertig war er danach auch. Das ist ja Wahnsinn. Steffen Weinhold stand auch immer zur Verfügung, musste aber oft verletzt passen und fehlte seinem Klub entsprechend lange. Nun ist es wahrscheinlich zu riskant, wieder ein Turnier mit bis zu neun Spielen in wenigen Tagen zu spielen. Ich bin mir sicher, dass beide gerne dabei gewesen wären, dass es eine rationale, keine emotionale Entscheidung war.
Der Handball wird jetzt den Fußball für mindestens zwei Wochen wieder aus dem Rampenlicht drängen. Freut das, oder sind Sie enttäuscht, dass das Interesse nach der EM wieder abnimmt?
Michelmann: Bei aller Kritik an der hohen Frequenz von Großturnieren in unserer Sportart: Dieser Januar ist immer unsere große Chance. Einmal im Jahr richtet sich die ganze Aufmerksamkeit der Sportfans auf uns. Bei der Heim-WM vor einem Jahr haben wir die Bühne genutzt. Die Ausgangslage ist eine gute, die Fernsehrechte an den Großturnieren haben sich ARD und ZDF bis 2025 gesichert. Da sind wir sehr gut aufgestellt. Ich freue mich also auf die kommenden Wochen und hoffe, dass wir auch darüber hinaus für Euphorie sorgen können. Ich wünsche mir aber, dass es bei den Frauen genauso sein könnte. Bei der Frauen-WM in Japan hatten die Däninnen zum Beispiel stets die gleichen Anwurfzeiten, weil das dänische Fernsehen live berichtet hat. Wir dagegen mussten uns stets auf andere Spielzeiten einrichten. Die Bedingungen bei einem Turnier richten sich auch nach den Fernsehstationen. Da steckt also ein Wettbewerbsvorteil dahinter.
Wie verhält sich denn der DHB-Präsident bei der EM, wenn das Team spielt? Reserviert oder euphorisch?
Michelmann: Hassan Moustafa, der Präsident des Welthandball-Verbands, hat mir einmal gesagt, dass man sich entscheiden muss: Ist man bei den Turnieren unter den anderen Präsidenten oder bei der Mannschaft? Ich habe mich entschieden, so lange bei der Mannschaft zu sein, wie diese im Rennen ist. Das mache ich bei den Männern und bei den Frauen so während Welt- und Europameisterschaften. Da bin ich während der Spiele 60 Minuten guten Gewissens Fan. Und neutral muss ich dann auch nicht sein (lacht).
Wie gewinnt man heutzutage überhaupt noch Kinder für den Handball?
Michelmann: Ein unserer Hauptaufgaben wird es nun sein, die Mitgliederzahl wieder zu erhöhen, die ja seit 2007 kontinuierlich nach unten geht und sich erst in den vergangenen beiden Jahren stabilisiert hat. Wir sehen in erster Linie den Ansatz an der Schnittstelle zwischen Schule und Verein. Durch den fast flächendeckenden Ganztagunterricht hat sich die Schul- und damit Freizeitlandschaft komplett verändert. Vereine müssen also mit den Schulen kooperieren, um den Nachwuchs überhaupt zu erreichen. Dabei wollen wir als DHB die Landesverbände und Vereine aktiv unterstützen. Das ist ein Teil. Aus Dänemark gibt es beispielsweise auch Spielformen, die weniger Dynamik und Tempo erfordern, um Sportler jenseits der 30 und 40 beim Handball zu halten. Die wollen wir übernehmen. Nachwuchs gewinnen und die Etablieren halten – das sind Teile unserer Ansätze. Logisch ist aber auch: Sportlicher Erfolg ist der größte Faktor bei der Mitgliedergewinnung. Das haben wir nach der WM 2007 und der EM 2016 gesehen. Oder nehmen wir als Beispiel die japanischen Fußballerinnen: Nach dem WM-Gewinn 2011 haben sich die Zuschauerzahlen in Japan verneunzehnfacht. Erfolg und Beliebtheit – da gibt es immer einen Zusammenhang.