Essen. Der Bochumer André Wiersig ist der erste Deutsche, der die sieben schwersten Meerengen meisterte. Er schwamm mit Haien und sprach mit dem Ozean.
Neulich hat sich André Wiersig erwischen lassen. Als der 48-Jährige auf einem Termin mit seinem Freund und Fotografen Dennis Daletzki ein Doppelzimmer gebucht hatte, wunderte sich dieser. „André, es dampft im Badezimmer. Hast du etwa warm geduscht?“, fragte der Fotograf. André Wiersig, ein Warmduscher? Unglaublich. Das ist, als verputzte ein Veganer die große Grillplatte beim Griechen.
„Ja. Manchmal dusche ich wirklich wieder warm“, erzählt André Wiersig und schmunzelt. Der gebürtige Bochumer ist der erste Deutsche, der die sieben wichtigsten Meerengen, die sogenannten Ocean’s Seven, auf fünf Kontinenten durchschwommen hat. Weltweit haben dies nur 16 Menschen geschafft.
„Kälte raubt einem den Atem“
Jahrelang hat sich der Paderborner morgens unter eiskaltes Wasser gestellt. Im Baumarkt hat er sich eine Tonne gekauft und mit Grundwasser gefüllt. 20 Minuten in sechs Grad kaltem Wasser. Gemütlich geht anders. Aber wer stundenlang im Meer bei neun bis zwölf Grad kraulen will, der muss leiden. „Gewöhnen kann man sich nicht daran“, sagt André Wiersig. „Die Kälte raubt einem völlig den Atem. Sechs Grad bleiben immer kalt, das kannst du dir nicht schön oder besser gesagt warm reden.“ Es war nur ein Mosaikstein in der akribischen Vorbereitung auf die größte Herausforderung, die das Schwimmen im Ozean bietet. André Wiersig hat sie gemeistert.
Nahtod-Erfahrungen
Begonnen hat alles im September 2014, als er den Ärmelkanal durchquerte. Neun Stunden und 43 Minuten für geschwommene 45,88 Kilometer. In diesem Jahr vollendete er die Ocean’s Seven in der Straße von Gibraltar. 18,2 Kilometer in vier Stunden und 17 Minuten. Als er aus dem Ozean stieg, wurde der harte Kerl ganz weich. „Mir kamen die Tränen. Ich konnte kaum glauben, dass ich diesen beschwerlichen Weg der Ocean’s Seven tatsächlich bewältigt hatte.“ Neben dem Ärmelkanal und der Straße von Gibraltar hat er auch den North Channel (35 Kilometer) zwischen Nordirland und Schottland, die Tsugaru Strait in Japan (20), die Cook Strait in Neuseeland (23), den Catalina Channel (32) vor Los Angeles und den Kaiwi Channel (44) vor Hawaii bewältigt.
Obwohl André Wiersig früher in der 2. Bundesliga geschwommen ist, obwohl er Stunde für Stunde jeweils vier Kilometer abspulen kann, ist er mehr ein Abenteurer wie Bergsteiger-Legende Reinhold Messner als Spitzenschwimmer wie der 23-malige Olympiasieger Michael Phelps. André Wiersig hat etliche Herausforderungen bestanden. Er ist gefährlichen Haien begegnet, er ist von Quallen wie den giftigen portugiesischen Galeeren so zerstochen worden, dass er der Ohnmacht nahe war. Das Risiko schwimmt immer mit: Nicht Opfer der Haie, nur nicht Spielball der Wellen werden. „Ich bin komplett mit dem Ozean verschmolzen, weil ich mich von allem gelöst habe“, sagt André Wiersig, hauptberuflich Marketing-Fachmann. Er ist ein erstklassiger Erzähler, der seine Abenteuer spannend rüberbringt. Bei Besuchen in Schulklassen ebenso wie in Seminaren mit Managern.
Im Ozean nur Gast
„Der Ozean macht, was er will. Ich bin dort nur Gast“, sagt er. „Den Ozean gibt es seit Millionen Jahren. Wer bin ich, dass ich dann rumschimpfen kann über Quallen, über Haie? Ich spreche mit dem Ozean. Und er antwortet. Wenn du dich öffnest so wie ich, dann spürst du seine Urkraft.“ André Wiersigs Erlebnisse auf dem Meer sind nicht mit denen von Urlaubern zu vergleichen. „Meine Perspektive ist eine ganz andere, als wenn du auf einem Kreuzfahrtschiff stehst. Da ist das Meer nur Kulisse. Ich bin mittendrin.“
Umgeben von Gefahren. Um das Risiko zu minimieren, hat er in Japan den Fischern den Verdienstausfall bezahlt, damit sie während seines Abenteuers in der Tsugaru Strait ihre Thunfischjagd unterbrechen. Die aufgewühlte Beute hätte sonst Haie angelockt. Trotzdem hat André Wiersig schon Begegnungen mit den Raubfischen erlebt – und überlebt. „Einfach ruhig bleiben, heißt mein Motto“, sagt er. „Haien kannst du nichts vormachen, die kennen deinen Puls und deinen Blutdruck.“
Noch gefährlicher war die Etappe im North Channel zwischen Nordirland und Schottland. Stundenlang ist André Wiersig bei Temperaturen von neun Grad durch die Wellen gekrault. Die Warnsignale des Körpers, das Zittern und das Zähneklappern – alles abtrainiert. Damals dachte er an Aufgabe. André Wiersig weiß, was Nahtod-Erfahrungen sind. „Der Übergang zur Bewusstlosigkeit ist bei Unterkühlung fließend“, sagt er. „Das Gefühl, aus dem Leben hinüber zu driften, ist gar nicht so unangenehm. Ich musste mich bewusst zurückholen.“
Schutzanzug ist verboten
Die Kälte ist umso schlimmer, weil André Wiersig die Weltmeere in einer Badehose durchquert. So schreiben es die Regeln vor. Im Begleitboot sitzt ein Kontrolleur. Zu keiner Sekunde darf er sich am Boot festhalten. Biopren nennt er seinen Schutzpanzer. „Wenn ich einen Neoprenanzug tragen würde, wäre ich nur ein weiteres Stück Plastik im Ozean“, sagt er. Wiersig schützt sich auf natürliche Weise vor der Kälte: Für seine Abenteuer im Meer frisst er sich Fett an. Nur so ist sie auszuhalten. Von 88 Kilo steigerte er sein Gewicht auf 112. Wie hat er das geschafft? „Eiscreme“, antwortet er. „Jeden Abend zwei große Becher mit dem Esslöffel. Herrlich!“
Auch Weihnachten wird bei Wiersigs nicht gefastet. Ursprünglich wollte er ans Meer. Aber seine Frau und seine beiden Kinder möchten lieber zu Hause feiern. „Dabei wäre ich nur ein, zwei Stunden durchs Meer geschwommen“, sagt André Wiersig und schmunzelt. Vielleicht geht er sogar wieder warm duschen.