Essen. Bei den French Open 1989 überrascht ein 17 Jahre alter Tennisspieler. Denis de Haas verfolgte dies auf der Couch - mit den Großeltern.

Wenn Tennis im TV lief, schalteten die Großeltern ein. Steffi Graf und Boris Becker hatten die Sportart in den 1980er-Jahren salonfähig gemacht. Bei den Grand-Slam-Turnieren fieberten Oma und Opa vom Fernsehsessel aus mit.

Serie: Welch ein Ereignis

In dieser Serie berichten wir über Ereignisse, die uns mehr als andere persönlich bewegt haben. Das können große Endspiele, olympische Momente oder ganz eigene Erfahrungen im oder mit dem Sport sein.

Zum Start: England gegen Deutschland - ein Spiel voller außergewöhnlicher Leidenschaft und Dramatik.

Wenn ich zu Besuch war, setzte ich mich schon mal dazu und lernte so die großen Spieler dieser Zeit kennen. Den smarten Schweden Mats Wilander. Spaßvogel Henri Leconte aus Frankreich. Oder Miroslav Mecir, diesen Tschechoslowaken, der sich auf dem Court so geschmeidig bewegte.

Am 5. Juni 1989 ging es mal wieder zu den Großeltern. Natürlich schauten sie Tennis: In Paris liefen schließlich die French Open. Beim Sandplatz-Turnier fielen die Entscheidungen in den Achtelfinals. Zwei Spieler betraten an diesem Tag vor fast genau 30 Jahren den Center Court: Einen der beiden Kontrahenten kannte ich natürlich. Wahrscheinlich kannte jeder sportbegeisterte Erstklässler damals Ivan Lendl aus Ostrau in der Tschechoslowakei. Diesen stoischen Mann ohne Lächeln. Der mit den großen Schweißbändern. Und den Sägespänen in der Tasche.

Auf der anderen Seite des Netzes stand ein unbekannter Mann. Oder vielmehr: Ein unbekannter Bursche. Michael Chang war bei dem Spiel gerade mal 17 Jahre und drei Monate jung. Kommentator Heribert Faßbender versorgte die Fernsehzuschauer jedoch mit näheren Informationen zum Spieler. Er erzählte etwa von Changs Eltern Betty und Joe, die aus Taiwan in die USA emigrierten. Der Sohn verließ im Alter von 16 Jahren die High School, um Profi zu werden. Das Duell mit dem großen Lendl hatte er sich mit guten Leistungen in Paris verdient. So gewann Chang die Zweitrunden-Partie mit 6:1, 6:1, 6:1 – gegen einen gewissen Pete Sampras.

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Doch Lendl schien eine Nummer zu groß zu sein. Er war ja auch Weltranglisten-Erster und hatte schon dreimal die French Open gewonnen. Die ersten beiden Sätze gewann Lendl. Es schien eine schnelle Vorstellung zu werden.

Ich sah damals nicht jeden Ballwechsel. Zwischendurch musste der Junge an die niederrheinische Luft. Als es spannend wurde, saß er wieder auf der Couch. Chang hatte sich zurückgekämpft. Satz drei ging an den Außenseiter. Nun packte dieser listige Teenager vermehrt seine Mondbälle aus. Chang verpasste der gelben Filzkugel eine unglaubliche Flugkurve. Damit brachte er Lendl aus dem Konzept. Der Favorit produzierte leichte Fehler und fluchte. „Dieser Platz ist absurd“, brüllte Lendl, nachdem er wieder einen Ball verschlagen hatte.

Bananen und literweise Wasser

Chang machte seinen Gegner durch die unorthodoxen Schläge lächerlich und brachte sich gleichzeitig zurück ins Spiel. Dennoch überwog im Wohnzimmer der Großeltern Skepsis, dass es mit der Sensation klappen könnte. Denn Chang war körperlich am Ende. „Ihm wackeln die Knie“, erklärte Heribert Faßbender. Chang plagten Krämpfe. Der US-Amerikaner verschlang während der Spielpausen eine Banane nach der anderen, schüttete literweise Wasser in seinen ausgelaugten Körper. Es half: Chang holte dank seiner Willensstärke auch Satz vier.

Die große Zaubershow hatte er sich für den finalen Durchgang aufgespart. Chang führte mit 4:3 und hatte Aufschlag. Er tippte den Ball auf, schaute nach oben und dann packte er einen unglaublichen Trick aus: Chang schlug von unten auf. Der verdutzte Lendl konnte den Return nur lasch zurück ins Feld spielen. Chang drosch nun den Ball mit der Vorhand auf den Körper seines Kontrahenten. Lendl blieb keine Chance, um zu reagieren. Die Zuschauer johlten ob dieser genialen Finte. „Ich hatte mehr Mühe, den Aufschlag zu halten, als Ivan zu breaken. Ich musste mir etwas einfallen lassen“, sagte Chang später in der „Neuen Zürcher Zeitung“ über diesen legendären Ballwechsel.

Schluss nach 4 Stunden und 43 Minuten: Ivan Lendl (l.) muss seinem jungen Kontrahenten Michael Chang gratulierte.
Schluss nach 4 Stunden und 43 Minuten: Ivan Lendl (l.) muss seinem jungen Kontrahenten Michael Chang gratulierte.

Chang hatte schließlich Gefallen an den Psychospielchen gefunden. Er erkämpfte sich bei Lendls Aufschlag einen Matchball. Chang schlich sich nach vorne, stand auf einmal an der T-Linie. Lendl schaute entgeistert zum Schiedsrichter, versprach sich Hilfe vom Unparteiischen. Doch Chang hatte nicht gegen Regeln verstoßen. Er wollte seinen Gegner lediglich aus dem Konzept bringen. Das gelang. Lendl produzierte einen Doppelfehler und beendete so ein episches Match. 4 Stunden und 43 Minuten hatte dieses Achtelfinale gedauert. Als das 4:6, 4:6, 6:3, 6:3, 6:3 aus Changs Sicht feststand, gab es auch Jubel im Wohnzimmer der Großeltern. Diesem raffinierten Jungprofi war der Sieg einfach zu gönnen.

Finalsieg gegen Edberg

Dass Chang nach diesem Kraftakt noch weitere Siege im Turnier holen würde, durfte bezweifelt werden. Er wirkte fix und fertig. Doch Chang rappelte sich auf, schlug Ronald Agenor aus Haiti im Viertelfinale und Andrej Tschesnokow aus der Sowjetunion im Halbfinale. Im Endspiel wartete der Schwede Stefan Edberg. Wieder gab es einen Krimi, den Chang in fünf Sätzen gewann. Er holte als jüngster Spieler der Tennis-Geschichte einen Grand-Slam-Titel – den Rekord hält der US-Amerikaner bis heute.

Ich erlebte diesen historischen Moment nicht vor dem Fernseher. Vermutlich stand am Finaltag ein Ausflug ins Freibad, ein Besuch in der Eisdiele oder sonst ein Freizeitvergnügen an. Die Großeltern werden aber im Wohnzimmer gesessen haben. Wegen ihrer Vorliebe für Tennis. Wegen Michael Chang.