Hamburg. Der Ex-Nationalspieler Martin Schwalb schwärmt von den deutschen Handballern. Für den weiteren WM-Verlauf sieht er keinen Stolperstein.
Immer wenn Martin Schwalb (55) über Handball spricht, ist seine Begeisterung kaum zu bremsen. Der einstige Nationalspieler (193 Einsätze/594 Tore) und Meistertrainer des HSV Hamburg, jetzt Sportchef und Vizepräsident des Zweitliga-Aufsteigers, gerät auch über die Spiele der deutschen Nationalmannschaft bei der laufenden Heim-WM ins Schwärmen. Sein Ausblick: „Wir können den Titel holen, ich sehe keinen Stolperstein.“
Herr Schwalb, wie überrascht sind Sie von den bisher starken Auftritten der deutschen Mannschaft bei dieser Weltmeisterschaft nach zuletzt mäßigen Vorstellungen und neunten Plätzen bei der EM 2018 und der WM 2017?
Martin Schwalb: Überrascht bin ich nicht, erfreut schon. Die Mannschaft verfügt über viel Potenzial, hat den Willen, die Begeisterung, das sind alles gute Jungs, und eine Heim-WM setzt immer noch ein paar Kräfte mehr frei. Kein Team bei dieser WM ist auf allen Positionen derart stark und ausgeglichen besetzt wie das deutsche. Alle anderen Top-Mannschaften müssen hier und da auf Notlösungen zurückgreifen – wir nicht. Auch unser Rückraum, vor der WM als Schwachpunkt angesehen, überzeugt mich. Die Euphorie, die die deutsche Mannschaft in den vergangenen zehn Tagen entfacht hat, wird sie weiter durch dieses Turnier tragen.
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Bis wohin?
Alles ist möglich, auch der Titel. Die Abwehr inklusive der beiden Weltklasse-Torhüter Andreas Wolf und Silvio Heinevetter ist die beste dieser WM, der Mittelblock mit den beiden Kielern Patrick Wienczek und Hendrik Pekeler alleroberste Schublade. Im Angriff haben alle Mannschaften ihre Probleme, darauf deutet auch die geringe Torausbeute in vielen Spielen hin.
Wer sind die härtesten Konkurrenten?
Die Top acht spielen alle auf ähnlichem Niveau, da wird die gern zitierte Tagesform entscheiden. Für unsere Mannschaft spricht die Abwehr, die Torhüterleistung, die Euphorie und zumindest bis zum Halbfinale am nächsten Freitag in Hamburg der Heimvorteil. Alle Spieler sind durch das Stahlbad Bundesliga oder Champions League gegangen, es mangelt ihnen nicht an Härte und Erfahrung. Ich sehe keinen ultimativen Stolperstein.
Weil der Angriff Spiele gewinnt, die Abwehr Titel?
Das gilt im Handball noch mehr als in anderen Sportarten. Ohne einen Weltklasse-Torhüter kannst du im Handball nichts gewinnen. Wir haben gleich zwei – und davor zwei bärenstarke Jungs.
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Kroatien und Europameister Spanien sind jetzt aber – bis auf Weltmeister Frankreich – andere Kaliber als in der Vorrunde.
Die Kroaten, die ihr letztes Vorrundenspiel gegen Spanien 23:19 gewannen, befinden sich im Umbruch, haben mich bis auf dieses Spiel noch nicht überzeugt. Deren Spielmacher Domagoj Duvnjak (THW Kiel), den wir ja noch vom HSV Hamburg gut kennen, muss regelmäßig auf Halblinks aushelfen, weil ihnen auf der Königsposition eine adäquate Besetzung fehlt. Natürlich werden das gegen Kroatien und Spanien zwei sehr enge, kämpferische Spiele, aber vieles – wie gesagt – spricht für die deutsche Mannschaft.
Gegen Russland (22:22) und Frankreich (25:25) hat die Mannschaft in der hektischen Schlussphase zweimal einen Vorsprung verworfen. In beiden Spielen kam es dabei in den letzten Minuten zu eklatanten Fehlpässen. Das deutet nicht gerade auf Nervenstärke hin.
Das hatte nichts mit schwachen Nerven zu tun. Gegen Russland spielt Drux 20-mal genau diesen Pass, beim 21. Mal spritzt plötzlich jemand dazwischen. Kann passieren. Gegen Frankreich, als Böhm Linksaußen Gensheimer anspielen will, der seine Position aber gerade verlässt, der Ball deshalb im Aus landet, führe ich dieses Missverständnis auf in diesem Moment fehlende Absprachen zurück. Auch das passiert. Ich sehe in beiden Situationen kein grundsätzliches Problem. Handball ist nun mal ein Spiel, in dem sehr viele Entscheidungen in sehr kurzer Zeit getroffen werden müssen, da wird es immer wieder zu Fehlern kommen, bei allen Mannschaften.
Wenn Sie auch von den Auftritten der Nationalmannschaft nicht überrascht sind, welche Spieler haben Sie denn überrascht?
Dass jene, die teilweise lange auf der Bank saßen wie zum Beispiel Fabian Böhm, Steffen Fäth und Fabian Wiede, wenn sie dann ins Spiel kommen, im Angriff gleich Druck machen, ihr Herz in die Hand nehmen, das Selbstvertrauen haben, für wichtige Würfe sofort die Verantwortung zu übernehmen.
Auch Bundestrainer Christian Prokop gilt bereits als ein Gewinner dieser WM. Bei der missglückten EM 2018 mit Platz neun wollte er noch alles selbst bestimmen, stand für seine personellen Maßnahmen hart in der Kritik, jetzt lässt er seine Spieler in den Auszeiten über die Abwehrtaktik entscheiden. Droht ein Trainer bei solch einem radikalen Sinneswandel nicht die Autorität und seine Glaubwürdigkeit zu verlieren?
Jeder Mensch entwickelt sich, lernt aus Erfahrungen dazu. Das ist erst mal positiv. Trainer, die als Diktatoren auftreten, sind ja auch nicht mehr zeitgemäß. Natürlich birgt es ein gewisses Risiko, der Mannschaft gerade in kritischen Phasen taktische Entscheidungen zu überlassen. Das geht nur, wenn derjenige, der sie trifft, meistens ist es Abwehrchef Pekeler, ein gutes Standing im Team hat, in der Hierarchie weit oben steht und mit der Verantwortung auch im Fall des Misserfolgs zurechtkommt. Bisher hat das gut funktioniert.
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Prokop hat mit den Nationalspielern in den vergangenen Monaten viele Gespräche geführt. Hat er damit das einst angespannte Verhältnis zwischen ihm und der Mannschaft reparieren können?
Das kann ich nicht beurteilen. Bei einer Heim-WM muss allerdings auch niemand überzeugt oder motiviert werden. Da ist jeder mit Feuer und Flamme dabei, solch ein Erlebnis will sich niemand entgehen lassen. Da spielt dann alles, was mal vorher war, keine Rolle mehr.
Wie kann der deutsche Handball von der herrschenden Euphorie profitieren. 2007, nach dem Triumph bei der Heim-WM, verlief sich der Effekt danach relativ schnell.
Erst mal ist es doch großartig, welche Begeisterung, welche Einschaltquoten der Handball erneut auslöst, welche positive Ausstrahlung unser Spiel hat. Mich nerven nur diese ständigen Vergleiche mit dem Fußball. Was soll das? Handball ist eine geile Sportart, wie es viele in Deutschland gibt. Ich bin Sportfan, gucke mir fast alles an, auch viel Fußball. Lasst doch jeder Sportart ihre Eigenständigkeit, stellt lieber die jeweilige Faszination heraus. Der Handball wird von dieser WM profitieren, weil die Vereine im Gegensatz zu 2007 inzwischen viel Geld für ihre Jugendarbeit ausgeben.
Kritik gibt es einmal mehr an den Schiedsrichtern. Sie pfiffen in der Vorrunde sehr kleinlich, erteilten allzu schnell Zwei-Minuten-Strafen.
Grundsätzlich bin ich mit dieser harten Linie einverstanden. Ich bin ein Fan des eleganten, schnellen Handballs. Wenn diese oft rüden, gesundheitsgefährdenden Fouls, wenn ein Spieler in der Luft weggestoßen wird, unterbunden werden, wird das Spiel noch attraktiver. Was aber nicht sein darf, ist, dass bei der WM völlig anders gepfiffen wird als in der Champions League und den Spielen der Nationalteams zuvor. Dieser Paradigmenwechsel hätte besser vorbereitet und kommuniziert werden müssen. So führt das nur zu einer allgemeinen Verunsicherung der Spieler.