London. Erstmals seit 2014 gehören zwei deutsche Tennisspielerinnen zu den besten Acht in Wimbledon. Nun haben sie die Chance auf einen Grand-Slam-Coup.
Da saß sie also vor der versammelten Weltpresse und musste erklären, wer sie eigentlich ist. „Ich bin eine aggressive Spielerin, die nicht darauf hofft zu gewinnen, sondern das Match in die eigenen Hände nimmt“, antwortete Julia Görges einem amerikanischen Reporter auf dessen Frage, wie sie sich selbst beschreiben würde. Wer gesehen hatte, wie die 29-Jährige aus Bad Oldesloe durch ein innerhalb von nur 76 Minuten herausgespieltes 6:3, 6:2 gegen die Kroatin Donna Vekic (21/Nr. 55) in das erste Grand-Slam-Viertelfinale ihrer Karriere eingezo-gen war, der konnte der Weltranglisten-13. nur zustimmen. „Hier bin ich jetzt“, sagte Görges noch, und ein bisschen klang es wie ein Mantra, um sich selbst zu vergewissern, dass sie es wirklich geschafft hatte.
Rund zwei Stunden zuvor, um 13.44 Uhr Ortszeit am „Manic Monday“, dem verrückten Achtelfinaltag, an dem alle 32 im Feld verbliebenen Tennisprofis ihrer Arbeit nachgehen müssen, vermeldete die Medienabteilung der All England Championships offiziell Historisches. Nachdem die an Position acht gesetzte Tschechin Karolina Pliskova (26) der Niederländerin Kiki Bertens (26/Nr. 20) mit 3:6, 6:7 (1:7) unterlegen war, stand fest, dass die Runde der letzten acht an diesem Dienstag ohne die zehn topgesetzten Damen stattfinden wird. Niemals zuvor in der Geschichte von Wimbledon war ein solches Favoritensterben vorgekommen.
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Dieser Fakt ist wichtig, um die Chancen ermessen zu können, die sich nun den zwei verbliebenen Mitgliedern des Deutschen Tennis-Bundes bieten. Neben Görges schaffte auch Angelique Kerber den Sprung ins Viertelfinale, was den Traum von einem deutschen Damenfinale am Leben erhielt. Die Weltranglistenzehnte Kerber, in Wimbledon an elf gesetzt und damit nun höchstnotierte Spielerin im Feld, bezwang die Schweizerin Belinda Bencic (21/Nr. 56) nach 108 Spielminuten 6:3, 7:6 (7:5) und steht zum vierten Mal an der Church Road nach 2012 (Halbfinale), 2014 und 2016 (Endspiel) unter den Top acht.
Zuletzt standen 2014 zwei deutsche Damen im Wimbledon-Viertelfinale
Letztmals standen 2014 mit Kerber und der in diesem Jahr in der Qualifikation gescheiterten Berlinerin Sabine Lisicki (28) zwei deutsche Damen im Wimbledon-Viertelfinale. Weil beide in unterschiedlichen Hälften des Tableaus zu finden sind, ist ein direktes Duell, an das keine der beiden vorgaben, einen Gedanken zu verschwenden, erst im Endspiel möglich. „Das wäre natürlich eine überragende Geschichte“, sagte Fedcup-Teamchef Jens Gerlach, der vom Abschneiden seiner beiden Topspielerinnen begeistert ist.
„Wenn man sieht, wie viele Topspielerinnen schon ausgeschieden sind, ist das beileibe keine Selbstverständlichkeit. Jule wirkt sehr selbstbewusst und fokussiert, Angies größte Qualität ist der unermüdliche Kampfgeist“, sagte er. Als Grund für das Favoritensterben hat der 45-Jährige die breiter gewordene Weltspitze ausgemacht. „Man muss von Beginn an volle Leistung bringen. Außerdem spielt auch der Untergrund eine Rolle, auf Rasen tun sich viele Topspielerinnen schwerer.“
Überraschend war, dass Görges die Entwicklung überhaupt nicht überraschend findet. „Ich kenne ja alle Konkurrentinnen, und die können alle richtig stark Tennis spielen. Jede ist gefährlich, egal in welcher Runde, deshalb sehe ich jetzt auch meine Chancen nicht größer als vorher. Ich muss weiter von Runde zu Runde schauen“, sagte sie. Im Viertelfinale (zweites Match nach 14 Uhr) gegen ihre frühere Doppelpartnerin Bertens, die in ihrer Karriere wie Görges fünf WTA-Titel gewann, in Wimbledon nie über die dritte Runde hinausgekommen war und als bestes Grand-Slam-Resultat den Halbfinaleinzug in Paris 2016 vorweisen kann, hat Görges eine 0:2-Bilanz. Sie verlor in diesem Jahr das Finale von Charleston 2:6, 1:6 und 2016 im Halbfinale von Nürnberg in drei Sätzen, beides allerdings auf Sand. „Auf Rasen ist es eine andere Geschichte“, sagte sie. Das Selbstvertrauen, mit dem sie Vekic neun Breakchancen verbaute und sich aus allen kritischen Situationen herauszog, dürfte ihr indes weiteren Schub verleihen.
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Den hat auch Kerber nötig. Die 30 Jahre alte Kielerin bewies einmal mehr unermüdlichen Kampfgeist, wurde von Bencic aber oft in die Defensive gedrängt und profitierte letztlich von 36 unerzwungenen Fehlern ihrer Kontrahentin, die sie im vierten Duell erstmals bezwingen konnte. „Ich bin froh, dass ich in zwei Sätzen durchgekommen bin“, sagte die zweifache Grand-Slam-Gewinnerin, die vorgab, sich mit dem Favoritensterben ebenfalls nicht zu beschäftigen. „Ich schaue nur auf mich und nicht darauf, was die anderen machen“, sagte sie.
Kerbers Bilanz gegen Kasatkina lautet 3:3
Auch wenn ihre Körpersprache oft wirkt, als trüge sie das Leid der gesamten Welt auf ihren Schultern: Kerber ist nach der verkorksten Saison 2017 wieder in der Spur, hat als einzige Topspielerin in dieser Saison bei allen Majorturnieren das Viertelfinale (14 Uhr/Sky) erreicht und ist gegen die Russin Daria Kasatkina (21/Nr. 14) trotz einer 3:3-Bilanz leicht favorisiert, weil sie das einzige Rasenduell vor zwei Wochen in Eastbourne gewann. Und erklären, wer sie ist, muss Angelique Kerber sowieso niemandem mehr.