Zagreb. Handballer Tobias Reichmann hat in der dramatischen Schlussphase gegen Slowenien den Siebenmeter für Deutschland verwandelt. Das Interview.
Der Morgen danach ist ein Morgen der Erleichterung. Mit 25:25 hatten sich die deutschen Handballer am Montag bei der Europameisterschaft in Kroatien von Slowenien getrennt. Nach einer hochdramatischen Schlussphase, als die zweite Vorrundenpartie eigentlich schon verloren schien, Deutschland dank eines Videobeweises aber nach Spielende noch einen Siebenmeter zugesprochen bekam. Rechtsaußen Tobias Reichmann nahm den Ball, traf und sicherte dem Team von Bundestrainer Christian Prokop so einen wichtigen Punkt. Der anschließende Protest der Slowenen gegen die Siebenmeter-Entscheidung wurde abgelehnt - und so war auch Reichmann (29) am Dienstag entspannt.
Herr Reichmann, findet man nach einem so hochdramatischen Abend überhaupt in den Schlaf?
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Tobias Reichmann: Es war echt schwierig. Ich glaube, ich habe um 3 Uhr zum letzten Mal aufs Handy geguckt. Gerade weil sich die ganze Situation mit dem Videobeweis so extrem in die Länge gezogen und sich in der Zeit immer mehr Adrenalin angesammelt hat. Aber ich bin dann doch glücklich eingeschlafen, auch wenn mein Handy immer wieder geblinkt hat. Ich habe bestimmt über 100 Nachrichten von Bundesliga-Mitspielern und Freunden bekommen.
Im Sommer 2016 wurde die Regel eingeführt, wonach ein grobes Vergehen und eine regelwidrige Wurfausführung in den finalen 30 Sekunden mit einem Siebenmeter und einer Roten Karte zu bestrafen sind. Der Slowene Blaz Blagotinsek hatte Paul Drux beim Wiederanwurf behindert. Und da kam der Videobeweis ins Spiel, der hier bei der EM in Kroatien seine Premiere feiert, nachdem er vergangenes Jahr bei der WM in Katar getestet wurde. Für alle war diese Situation also eine völlig neue, oder?
Tobias Reichmann: Ich glaube, so eine Situation hat von uns noch keiner erlebt. Es war schon sehr speziell. Als unser Torwart Silvio Heinevetter nach dem Spielende nach vorne stürmte, war mir aber eigentlich klar, dass es nur um eine Siebenmeter-Situation gehen kann. Ich habe mir dann die Jacke ausgezogen und den Ball in die Hand genommen. Warum sich das mit dem Videobeweis dann so extrem in die Länge gezogen hat, wissen wir im Nachhinein aber auch: Die Schiedsrichter hatten sich erst die falsche Szene angeguckt, sie hatten sich auf das letzte Tor von Slowenien konzentriert. Da konnten sie lange gucken (lacht).
Was geht einem durch den Kopf, wenn alles plötzlich auf diesen einen Wurf ankommt?
Tobias Reichmann: Da geht einem schon vieles durch den Kopf. Man weiß, dass es ein sehr wichtiger Wurf ist. Es geht um einen wichtigen Punkt, der im weiteren Turnierverlauf eine große Rolle spielen kann und es wohl in der Hauptrunde auch tun wird. Man will die richtige Entscheidung treffen und zum Glück hat es auch funktioniert. Ich hatte einen Plan, hatte mir eine Ecke ausgesucht. Ich wollte den Ball rechts oben versenken. Ich hatte mich aber dann noch mal unentschieden, der Torwart war etwas passiv und ich bin auf die Diagonale gegangen.
An Selbstvertrauen mangelt es Ihnen also nicht.
Tobias Reichmann: Darum ist es ganz gut bestellt (lacht). Uwe Gensheimer hatte gegen Slowenien nicht den besten Tag, er hatte in der Anfangsphase zwei Siebenmeter verworfen. Mein erster ging auch daneben, aber zum Glück hatte ich den Nachwurf reingemacht. Danach hatte ich bei den weiteren Siebenmetern ein sehr gutes Gefühl, und so war für mich auch klar, dass ich den am Ende werfen werde. Uwe kam noch mal auf mich zu und fragte, ob ich es sicher machen will. Das wollte ich, denn wie gesagt, ich hatte ein gutes Gefühl.
Trotzdem: Die gegnerischen Spieler redeten wild auf sie ein, als sie auf das Tor zugingen...
Tobias Reichmann: Ich bin ja schon ein paar Jahre in diesem Sport dabei und habe schon viele Situationen erlebt, in denen es drauf ankommt. Aber trainieren kann man das wirklich nicht. Es sind immer ganz spezielle Situationen. Am Ende ist man einfach nur froh, dass die Wurf-Entscheidung richtig war.
Warum sind es so häufig die Außenspieler, die die Siebenmeter werfen?
Tobias Reichmann: Das ist schwer zu sagen, in einigen Teams sind es ja auch die Rückraumspieler. Aber als Außen hast Du ja meist nur wenig Chancen im Spiel. Die musst Du also nutzen. Vielleicht ist man deshalb auch etwas nervenstärker und variabler, was die Wurfauswahl angeht.
Am Mittwoch geht es im letzten Vorrundenspiel gegen Mazedonien (18.15 Uhr/ARD) um den Gruppensieg.
Tobias Reichmann: Wir müssen dieses Spiel gewinnen, ganz klar. Das ist das erste Endspiel für uns, jetzt kommen nur noch Endspiele. Wir dürfen keine Federn mehr lassen. Deutschland hatte immer ein schlechteres Spiel im Turnier mit dabei, bei der EM 2016 war es gegen Spanien gleich die erste Partie. Danach hatten wir uns aber gesteigert. Auch jetzt wissen wir, worauf es gegen Mazedonien ankommt. Das wird noch einmal ein Stück härter, die Mazedonier sind körperlich noch präsenter als die Slowenen. Auch die mazedonischen Fans werden noch einmal mehr Emotionen in die Halle bringen.
Die Stimmung ist also gut, dem erwarteten Sieg gegen Slowenien wird nicht nachgetrauert?
Tobias Reichmann: Am Ende war es eine große Mannschaftsleistung. In der ersten Halbzeit hatten wir große Probleme in der Abwehr, wir waren immer einen Schritt zu spät und haben leichte Gegentore kassiert. Dadurch sind auch unsere Torhüter nicht gut ins Spiel gekommen, die Abwehr hatte einfach ein paar Lücken zu viel. In der zweiten Halbzeit haben wir uns dann zurückgekämpft und standen viel kompakter. Es war am Ende ein verdienter Punkt. Ein gewonnener Punkt.
Finn Lemke, Ihr Teamkollege beim Bundesligisten MT Melsungen, wurde vom Bundestrainer nachnominiert und soll bereits gegen Mazedonien spielen. Mit ihm als Abwehrchef wurden Sie und das Nationalteam 2016 Europameister und holten Olympia-Bronze. Eine gute Entscheidung von Christian Prokop?
Tobias Reichmann: Finn kann uns sehr viel bringen, vor allem mehr Stabilität in der Abwehr. Gerade weil wir gegen Mazedonien mehr Wurfgewalt aus dem Rückraum und ein vermehrtes Spiel über den Kreis erwarten. Finn ist ein großer Motivator, er kann Leute mitreißen. Körperlich wird er uns mit seiner Größe und seinen langen Armen enorm helfen. Und er ist eingespielt mit Patrick Wiencek und Hendrik Pekeler in der Abwehrmitte. Wir hatten in der Nacht auch schon Kontakt, als es uns mitgeteilt wurde.
Das Team-Gefühl wie vor zwei Jahren beim EM-Sieg in Polen- ist es nun auch in Kroatien da?
Tobias Reichmann: Es kommt jetzt, ja. Nun merken wir, dass wir richtig im Turnier drin sind. Auch wenn wir in der Abwehr gegen Slowenien noch nicht so weit waren. Aber das Gefühl ist da, die Sicherheit kommt auch. Wir werden uns nun gut auf Mazedonien einstellen und dann habe ich eigentlich ein ganz gutes Gefühl.
Was hat es eigentlich mit Ihrer Vorliebe für Mais auf sich?
Tobias Reichmann: (lacht) Ich weiß nie, wie ich auf die mir immer wieder gerne gestellte Frage antworten soll, warum ich so hoch springe. Ich esse viel und sehr gerne Mais, das stimmt. Ich bilde mir auch ein, dass es funktioniert, weil ich die Sprungkraft nicht extra trainiere. Ich sehe es deshalb als mein Erfolgsgeheimnis. Aber am Ende sind es wahrscheinlich die guten Gene von den Eltern.