Melbourne. Angelique Kerber holte den ersten deutschen Titel bei einem Grand-Slam-Turnier seit Steffi Graf 1999. Serena Williams zeigte Größe bei ihrer Pleite.
Es war Ende Mai 2014 während der French Open in Paris, einem der vier größten Tennisturniere der Welt. Grand-Slam-Turniere heißen sie in der Welt dieses Sports, um sie dreht sich alles. Die Siege in Melbourne, Paris, Wimbledon und New York zählen in jeder Hinsicht mehr als andere; sie sind mit höheren Preisgeldsummen dotiert, bringen mehr Punkte für die Weltrangliste ein und vor allem das größte Renommee. In Paris also saß Benjamin Ebrahimzadeh an einem Tisch im Spielerrestaurant und unterhielt sich mit der deutschen Bundestrainerin und Fed-Cup-Chefin Barbara Rittner über Angelique Kerber, die er seinerzeit trainierte. Die Kielerin hatte gerade ein Spiel gewonnen, am Tisch herrschte Zufriedenheit, aber Ebrahimzadeh sprach wieder mal aus, was er schon oft beobachtet hatte: „Die weiß gar nicht, was sie alles kann.“
In der neuen Weltrangliste steht Kerber auf Platz zwei
Nun, das Problem scheint gelöst zu sein. Mit dem grandiosen Sieg bei den Australian Open am Samstag in Melbourne gegen Serena Williams in einem Spiel voller Hingabe und Entschlossenheit, gewann Kerber nicht nur den ersten Grand-Slam-Titel ihrer Karriere, sie wird in der neuen Weltrangliste, die heute erscheint, auch so weit vorn stehen wie nie eine deutsche Spielerin außer Steffi Graf - auf Platz zwei.
Am Morgen nach dem großen Sieg, mit dem sie 15.000 Zuschauer im Stadion und Millionen weltweit an den Fernsehschirmen begeistert hatte, fuhr Kerber am Yarra vor, Melbournes Fluss. Sie trug ein helles, kurzes Sommerkleid, dazu blaue Espadrilles und war perfekt geschminkt; sie sah großartig aus. Aber es ging ihr so, wie es jemandem geht, der kaum geschlafen hat und der die Folgen der Nacht nun in den Knochen spürt. „Ich bin so fertig“, stöhnte sie und ließ sich auf eine Bank fallen, „was mach’ ich jetzt?“ Drei Stunden hatte der Pressemarathon nach ihrem Sieg gedauert, von einem Fernsehstudio war sie ins nächste geführt worden, und nach Dopingprobe war sie erst gegen drei im Hotel gelandet. Danach war sie mit ihrem 2015 ins Team zurückgekehrten Trainer Torben Beltz, einem sehr entspannten, baumlangen Nordlicht, und Physio Simon Iden in einen Nachtclub losgezogen. Es war schon hell, als die Feiergruppe Kerber wieder im Hotel ankam, doch da stand schon der nächste Termin auf dem Programm. Fahrt zum Yarra, weitere Fernseh-Interviews und danach der verabredete Sprung in den Fluss. Hier hatte sie zwei Wochen zuvor bei Aufnahmen für Eurosport mit Moderator Matthias Stach gewettet, im Falle des Turniersieges würde sie ins Wasser springen wie einst der Amerikaner Jim Courier. Was man halt so sagt, wenn man gerade guter Laune ist.
Für das breite Publikum vom Radar verschwunden
Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, in diesem Jahr bei den Grand-Slam-Turnieren besser zu spielen als im vergangenen - in Melbourne war sie seinerzeit in der ersten Runde ausgeschieden -, konnte sie sich beim Spaziergang nicht allen Ernstes vorstellen, dass sie am Ende siegen würde. Für das breite Publikum war sie ein bisschen vom Radar verschwunden im Jahr 2015, obwohl sie vier Titel gewann. Zu lange lagen ihre bisher größten Erfolge zurück, die Halbfinals bei den US Open 2011 und in Wimbledon im Jahr danach. 2011, das Jahr der Wende in der Karriere der Angelique Kerber. Nach einer Serie von Niederlagen, verbunden mit einer großen Portion Ratlosigkeit, hatte sie sich damals von Andrea Petkovic überreden lassen, in Offenbach in der Akademie der ehemaligen Profis Rainer Schüttler und Alexander Waske zu trainieren, und schon wenige Wochen später spielte sie zu ihrer großen Überraschung im Halbfinale in New York. Danach meinte sie, das sei der Anfang von etwas Neuem gewesen, und in Wimbledon im Jahr danach bestätigte sie diesen Eindruck.
Doch das Neue wurde älter, und es kam nichts dazu. Dass sie danach konstant zu den besten Zehn des Frauentennis gehörte, wurde in Deutschland nur am Rande registriert. Sie war die Beste der Spielerinnen aus der ersten Auswahl von Teamchefin Barbara Rittner, aber irgendwie spielte sie nicht in der ersten Reihe; oft verschwand sie hinter der Eloquenz von Andrea Petkovic und den Auftritten der eher extrovertierten Sabine Lisicki.
Ihr ganzes Leben auf einen Grand-Slam-Titel hingearbeitet
Sie merkte sehr wohl, dass manche Leute dachten, sie komme nicht fix genug voran. Aber sie glaubte dennoch, auf dem richten Weg zu sein. „Ich habe mein ganzes Leben darauf hingearbeitet, so ein Turnier wie hier in Melbourne zu gewinnen“, sagte sie in der Morgensonne am Fluss, „und ich wusste: Eines Tages bist du soweit.“ 2014 erreichte sie vier Finals und verlor alle vier; 2015 erreichte sie vier Finals und gewann alle vier. Offensiv suchte sie sich ihre Ziele für die neue Saison aus, und nachdem sie nun schon nach dem ersten Monat des Jahres in der Realität ihres großen Traumes angekommen ist, kann man sich vorstellen, dass es ein sehr interessantes Jahr werden kann, für Angelique Kerber und die deutsche Tennislandschaft.
Während des Turniers feierte sie ihren 28. Geburtstag; das ist heutzutage ein ganz normales Alter im Spitzentennis für große Sieger. Die Zeit der Grafs, Seles’ und Capriatis, die schon als Teenager brillierten, ist vorbei; das Spiel ist anspruchsvoller geworden, und es dauert länger, bis zur Spitze zu gelangen. Kerber hat nicht das Gefühl, zu spät dran zu sein, ganz im Gegenteil. Vor ein, zwei Jahren wäre sie noch nicht reif gewesen für diesen Erfolg, sagt sie, hätte ihn nicht so genießen können wie heute. Wichtig sei, auf dem langen Weg an die eigenen Sichtweise zu bewahren. Einer der Ratschläge, die sie im vergangenen Jahr von Steffi Graf bei einem Besuch in Las Vegas bekommen hatte, war: Versuch’ es auf deine Art, bleib dir treu, egal, was die anderen sagen. Was genau in den beiden Wochen in Melbourne mit Angelique Kerber passierte, ist schwer zu sagen. Von welchem Impuls sie geführt wurde, nachdem sie den Schreck des ersten Spiels mit einem abgewehrten Matchball hinter sich gebracht hatte. Am Ende jedenfalls wirkte sie so locker und entspannt wie nie zuvor, selbst bei den Pressekonferenzen, in denen sie früher oft nicht besonders wohl gefühlt hatte. Sie scherzte und lachte, zeigte Schlagfertigkeit, und nichts schien ihr zu viel zu sein. In der letzten Konferenz nach dem Sieg füllte sie den Interviewraum mit sprudelnden Glück und ihrer Persönlichkeit auf eine Art, die man sich vor einem halben Jahr noch nicht vorstellen konnte. Am Ende schwärmte sie, der Titel allein sei schon der Wahnsinn, ihn aber in einem großen Spiel gegen die noch größere Serena Williams gewonnen zu haben, mache die Sache erst perfekt. „Ich in Grand-Slam-Siegerin und Nummer zwei der Welt.“
Am Dienstag wird sie in Leipzig erwartet
Sie ist darauf vorbereitet, dass sich ihr Leben nun ein wenig ändern wird. Am Dienstag, 2. Februar, wird sie in Leipzig zu einem Spiel der deutschen Mannschaft gegen die Schweiz im Fed Cup erwartet, und es wird sich alles um die große Siegerin drehen. Sie sagt, sie freue sich auf jeden Schritt der nächsten Wochen und Monate, obwohl sie sich natürlich auch denke kann, dass ihr nicht alles gleich gut gefallen wird. Einstweilen findet sie es schön, erkannt zu werden, zumal wenn es auf eine so entspannte Art passiert wie am letzten Tag ihres Aufenthaltes in Melbourne. Auf wackeligen Beinen, oben aber dennoch bemerkenswert souverän, erledigte sie am Sonntagmorgen die Aufgabe mit den Fernsehinterviews am Fluss. Zwischendurch kam ein Rudervierer besetzt mit älteren Damen vorbei, die nach einem Blick auf die Versammlung am Ufer die Blätter sinken ließen, winkten und riefen: „Congrats, well done“.
Für den Tennissport in Deutschland, soviel ist abzusehen, dürfte der Triumph von Melbourne so viel wert sein wie Sommerregen auf einem Feld voller Furchen. Hierzulande gibt es für Aufmerksamkeit im Sport - lassen wir mal den Fußball außen vor - offenbar nur eine einzige
Brücke, den Erfolg. Das trifft sicher nicht auf die Einschätzung eines Fachmannes wie Michael Stich zu, den Wimbledonsieger von 1991. Der hatte das Finale am Fernseher verfolgt und schwärmte hinterher: „Was für eine grandiose Leistung in einem Wahnsinnsmatch! Ich bin begeistert! Ich freue mich riesig für Angie und habe offen gestanden auch eine kleine Freudenträne verdrückt.“ Ein zu Tränen gerührter Wimbledonsieger - das ist ein wunderschönes Kompliment.
Und eine Reaktion aus der Fußballbranche zeigt, dass auf einmal wieder ein kleines Feuer brennt. Der ehemalige Profi Hans Sarpei übermittelte nach dem Finale eine Botschaft auf Twitter, in der steht: „Und dann kommt der Moment, in dem du wieder zehn Jahre bist und vor der Fernseher mitfieberst.“ Darum geht`s.