Essen. Fritz Herkenrath, der Torhüter der RWE-Meisterelf, in seinen Erinnerungen an das legendäre Endspiel von Hannover und die lange Bahnfahrt zurück ins Ruhrgebiet.
Ein Aachener Vorort, kurz vor der belgischen Grenze: Saftige Wiesen, braune Kühe auf der Weide, ländliche Idylle – die Heimat von Fritz Herkenrath. Bei einem Besuch in seinem Wohnzimmer erinnert sich der bald 87-Jährige an den bedeutendsten Tag in der RWE-Vereinsgeschichte.
Der 26. Juni 1955, der Tag der Deutschen Meisterschaft, war ein Sonntag. Auch ein sonniger Tag?
Fritz Herkenrath: Zumindest hat es nicht geregnet. Auf jeden Fall ein schlechter Tag für Herkenrath, der ein schlechtes Spiel gemacht hat.
Wann sind Sie denn zum Endspielort gereist?
Herkenrath: Die Mannschaft war schon vor mir da, ich war zur damaligen Zeit schon Lehrer und konnte nicht einfach sagen: Ich fahre eine Woche zum Lehrgang. Aber ich bin pünktlich zum Finale zum Team gestoßen.
Der 1. FC Kaiserslautern war damals mit seinen Weltmeistern das Beste, was der deutsche Fußball zu bieten hatte. Und RWE?
Herkenrath: Nun, krasser Außenseiter, will ich nicht sagen. Natürlich hatte Lautern eine Startruppe, aber auch wir hatten gute Stürmer und sind nicht unverdient ins Endspiel gekommen.
Trainer der Rot-Weissen war ein gewisser Fritz Szepan. Was hat er ihnen vor dem Spiel mit auf den Weg gegeben?
Herkenrath: Eigentlich nicht viel. Die Trainer damals haben nicht viel geredet, die kann man mit den heutigen gar nicht vergleichen.
Und dann kam die elfte Spielminute und das 0:1...
Herkenrath: Eine ganz und gar harmlose Situation. Da kommt eine Flanke, ich steige hoch, aber auf dem Weg zum Ball höre ich den Zuruf meines Abwehrspielers Köchling. Der Ball fiel mir aus den Händen und kullerte in Zeitlupe über die Torlinie.
Die Partie ging ähnlich schlecht für Sie weiter.
Herkenrath: Richtig, bei der nächsten Aktion, bei einer Fußabwehr, als ich aus dem Tor herauskam, erwischte mich ein Lauterer am Knöchel, was mich die restliche Spielzeit humpeln ließ. Ich hab da sicher nicht das beste Spiel meiner Laufbahn gemacht.
Davon abgesehen, gehörten Sie aber zu den Besten Ihrer Zunft.
Herkenrath: Dass ein Mann mit 1,70 Metern Torwart spielt, war sicherlich nicht gewöhnlich. Dennoch gehörte die Strafraumbeherrschung zu meinen Stärken. Und das, obwohl ich mich nicht allein auf den Fußball konzentrieren konnte. Morgens um vier saß ich in der Straßenbahn, dann ging es im Bus nach Kupferdreh, schließlich hatte ich noch eine Beschäftigung auf der Zeche Heinrich. Um dann dennoch meinen Mann in den Punktspielen zu stehen. Das waren andere Zeiten.
Zurück zum Finale: 3:1 führte RWE zur Halbzeit, da war doch zur Pause bestimmt gute Laune in der Kabine.
Herkenrath: Trainer Szepan haben wir gar nicht gemerkt. Unser Helmut (Rahn) war wie immer optimistisch. Er war ja unsere Stimmungskanone, auch bei den langen Fahrten im Bus.
Nach dem Wechsel wurde es eng. Bis Penny Islacker mit letzter Kraft das 4:3 erzielte, aus stark abseitsverdächtiger Position. Heute hängt zu seinen Ehren sein lädiertes Knie als Bronzeplastik im Spieleraufgang des Stadions Essen.
Herkenrath: Das hat er auf jeden Fall sich verdient nach seinen drei Toren. Penny war ein unangenehmer, ein besonderer Spieler, was er auf dem Platz wie in seinem Umfeld so angestellt hat, ein echter Nickel. Er hatte seine sonnigen Tage, aber auch seine dunklen. Nach der Partie waren die Lauterer so sauer, dass sie nicht zum Bankett kommen wollten, erst auf Drängen des DFB kamen sie dann doch noch.
Wahrscheinlich war der Frust, gegen neun Essener verloren zu haben, zu groß.
Herkenrath: Stimmt, Penny humpelte nur noch, und auch ich ging bei den Flankenbällen gar nicht mehr richtig hin, aber früher musste eben noch mit elf Mann weitergespielt werden, Auswechselungen gab es noch nicht.
War es denn nun Abseits? Hat der FCK denn zu Recht Frust geschoben?
Herkenrath: Ich konnte das 4:3 schlecht sehen, es war wohl knapp. Aber die Lauterer waren wohl auf sich selbst sauer: Der Linienrichter hatte Penny aufs Feld zurück beordert. Und da er humpelte, hat ihn der FCK wohl nicht ernst genommen, auch der Torhüter hat keine große Reaktion gezeigt.
Am nächsten Morgen rappelte früh wieder der Wecker
War der Titel für Essen denn ähnlich bedeutsam wie 1954 der WM-Sieg für die ganze Nation?
Herkenrath: Nun ja, wir haben auch eine Siegesfahrt durch Essen gemacht, es war ja auch nicht ganz unverdient, uns ist nichts geschenkt worden. Aber in Essen herrschte keine Aufbruchstimmung, wir hatten ja 1953 schon den Pokal gewonnen, das Publikum war auch mit den Leistungen gewachsen. Das Ruhrgebiet war damals noch eine Goldgrube, in der einer wie Georg Melches mächtig Einfluss genommen hat. Ohne ihn hätte es die Südamerika-Tour 1954 niemals gegeben.
Trotzdem, ganz so trocken wird die Rückfahrt doch nicht gewesen sein?
Herkenrath: Es wurde schon eine Triumphfahrt. In Dortmund und Bochum standen die Leute auf den Gleisen, sodass der Zug gar nicht in den Bahnhof einfahren konnte. Manche Spieler sind dann hinten raus stiften gegangen und wurden mit Privat-Pkws nach Essen chauffiert. Ich bin bis zuletzt im Zug geblieben.
Und in Essen gab es dann die große Party?
Herkenrath: Ach was, es wurde kein großes Tamtam gemacht. Klar gab es eine Triumphfahrt zum Saalbau und nach Bergeborbeck. Aber am nächsten Morgen war alles vorbei, schließlich rappelte der Wecker schon wieder ganz früh. Ich musste ja zur Schule.
Was gab es denn als Prämie für die Meisterspieler?
Herkenrath: Finanziell gab es jedenfalls nicht so viel, dass ich mich heute noch daran erinnern könnte.
Es stand zu lesen, die Kurverwaltung Baltrum spendierte jedem einen zweiwöchigen Erholungsurlaub auf der Nordseeinsel?
Herkenrath: Jetzt, wo Sie es sagen, fällt es mir wieder ein: Aber ich hatte nicht viel davon, konnte die Insel nur für ein paar Tage aufsuchen, ich musste ja zur Akademie. Aber meine Frau Franzi kam dafür in den Genuss, sie ist dann länger geblieben. Die Spielerfrauen haben damals viel gemeinsam unternommen.
Mit der Meisterschaft hatte die Mannschaft offensichtlich ihren Zenit überschritten, die Erfolge kamen nie wieder.
Herkenrath: Gottschalk hörte auf, Termath ging nach Karlsruhe. Und die Gagen bei uns waren damals nicht gestiegen. 320 Mark verdiente ich zu der Zeit, das war für damalige Verhältnisse viel Geld. Kurz darauf kam der Berufsfußball. Aber ich kam leider nicht mehr in den Genuss, weil ich kurz darauf nach Aachen ging. Es waren schöne zehn Jahre in Essen.