London. Gewichtheber Matthias Steiner konnte seinen Triumph von Peking nicht wiederholen. Bei seinem zweiten Versuch im Reißen rutschten ihm die 196 Kilo Eisen aus den Händen und knallte gegen Rücken und Nacken. Danach musste Steiner aufgeben.

Matthias Steiner hat sich ein paar Bartstoppeln wachsen lassen und einen noch mächtigeren Bauch als bisher. Er wiegt 149,98 Kilogramm, als er die Olympia-Bühne betritt. Die Super-Schwergewichtler suchen an diesem Abend in London den stärksten Mann der Welt. Steiner ist ein Gewichtheber mit Leib und Seele, aber nur ein paar Minuten später ist aus ihm ein Gewichtheber mit Leid und Seele geworden. Der Olympiasieger von Peking muss mit einer Rückenverletzung aufgeben.

Bei seinem zweiten Versuch im Reißen rutschen ihm die 196 Kilo Eisen aus den Händen. Eigentlich sind es Hände, mit denen er einen Güterzug anschieben könnte. Doch der 29-Jährige hatte eine Vorbereitung hinter sich, die eigentlich nur aus Verletzungen bestand. Vor elf Monaten der Riss der Quadrizepssehne im linken Knie, so gut wie das Ende der Karriere. Aber Steiner biss sich durch, doch folgte im Mai im Trainingslager die Slapstick-Szene.

Steiner besteht aus Fleisch und Mut

In dem Keller mit den Gewichten blockierten seine Rückenmuskeln, er konnte sich nicht mehr bewegen und kippte zu Boden. Zehn Sanitäter schleppten ihn auf einer Trage die Treppe herauf, drei Tage lag er im Krankenhaus. Dass er am Dienstagabend überhaupt auf der Bühne in London geht, ist ein Sportler-Wunder.

Doch Steiner besteht aus Fleisch und Mut. Außerdem will er sich etwas beweisen. In Peking hielt er bei der Siegerehrung das Foto seiner Frau Susann in der Hand, die ein Jahr zuvor bei einem Autounfall gestorben war. Der weinende Sieger Steiner wurde das Gesicht der Spiele 2008. Die Talkshows rissen sich um ihn, er nahm auf allen Sofas Platz, die man ihm hinstellte. Er lernte die Fernsehmoderatorin Inge kennen und heiratete sie. Mittlerweile gehört der zweijährige Felix zur Familie.

Irgendwann merkte Steiner: „Ich war ein Boulevard-Sportler geworden und wollte es nicht wahrhaben.“ Das erzählte er dem „Spiegel“ in einem Interview. Er legte den Schalter um und fuhr wieder jeden Tag zweimal in die Trainingshalle, er fraß wieder Eisen. Er wurde so massig, dass sich Ottfried Fischer hinter ihm verstecken könnte. Und er glaubte nach der Ankunft in London: „Ich kriege im Reißen sicher auf den Deckel, aber wenn der Rückstand nicht zu groß wird, kann ich mit dem Stoßen aufholen.“

192 Kilo im ersten Versuch des Reißens

Er hebt 192 Kilo im ersten Versuch des Reißens. Er lässt 196 Kilo auflegen. Der Rückstand darf nicht anwachsen. Er darf nicht! Zuviel, das Eisen rutscht aus den riesigen Händen, knallt gegen seinen Rücken und gegen den Nacken. Und nun liegt Steiner wie ein hilfloser Maikäfer unter der Hantel.

Helfer springen mit einer blauen Plastikplane auf die Bühne und schirmen den Gewichtheber vor den Blicken der Zuschauer ab. Es dauerte Minuten, die sich wie eine Ewigkeit anfühlen. Dann steht Steiner auf, er reckt die Faust. Alles gut.

Aber nichts ist gut. Auf der Bühne greifen die Reiß-Wölfe an. An dem iranischen Weltmeister Behdad Salimikordasiabi ist alles groß. Selbst sein Name passt nicht in voller Pracht auf die Anzeigetafel. Der 22-Jährige wuchtet 208 Kilo über den Kopf. Als die Hantel auf den Boden zurückfällt, dröhnt es wie beim Zuschlagen einer Eichentür. Man spürt den Schlag weit noch weit oben unter dem Hallendach bis in den Magen.

Steiner sitzt in diesem Augenblick auf einem winzigen Plastikstuhl im Aufwärmbereich. Drei Physiotherapeuten bearbeiten seinen Rücken. Bundestrainer Frank Mantek steht mit einem besorgten Blick daneben. In Peking ist er Steiner nach dem Olympiasieg als Erster um den Hals gefallen, in London leidet er mit.

Auf der Bühne ist die Uhr für Steiners dritten Versuch im Reißen abgelaufen. Der 29-Jährige hatte eine Minute Zeit, um an die Hantel zu gehen, 197 Kilo sind aufgelegt.

Steiner kommt nicht. Er kommt an diesem Abend gar nicht mehr. Er hat kein Kreuz aus Eisen, der Rücken spielt nach dem Schlag nicht mehr mit. Die Ärzte raten ihm zum Aufgeben.

Behdad Salimikordasiabi holt Gold

Auf der Bühne wird der Mann, den sie den „Iranischen Herkules“ nennen, derweil Steiners Nachfolger als Olympiasieger. Behdad Salimikordasiabi ist mit 168,19 Kilo der schwerste Mann der Konkurrenz. Ein Koloss, von der Tribüne muss man wie beim Tennis den Kopf drehen, um von einem Ende der Schulter zum anderen zu sehen. Der Iraner stößt 247 Kilo, im Zweikampf sind das 455 Kilo: Gold!

Steiner kriegt das alles nicht mehr mit. Ein Krankenwagen hat ihn zur Poliklinik von London gefahren. Eine Vorsichtsmaßnahme. „Wir lassen seine Schmerzen im Rückenbereich dort zur Sicherheit genau untersuchen“, sagt der deutsche Team-Arzt Bernd Wohlfahrt. Steiner hatte bei der Abfahrt Tränen in den Augen. Ein Gewichtheber mit Leid und Seele.