Essen. Die verborgene Wirklichkeit der deutschen Sportförderung zur Produktion von Medaillen im Vier-Jahres-Takt erinnert an die Planwirtschaft. Zahlen werden unter Verschluss gehalten, Auskünfte selbst vor Gericht verweigert. Wir offenbaren die wahre Dimension des Medaillenwahns.

Im geheimen Vierjahresplan des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) steht alles fest: Acht Medaillen müssen die deutschen Leichtathleten bei den Spielen in London holen, zwei davon in Gold. So wurde es 2008 beschlossen. So sollen es die Athleten ausführen. Bei Nichterfüllung des Planes drohen drastische Konsequenzen: Geldentzug, Trainerentlassungen. Diese verborgene Wirklichkeit der deutschen Sportförderung zur Produktion von Medaillen im Vier-Jahres-Takt erinnert an die Planwirtschaft. Funktionäre und Beamte versuchen mit allen Mitteln zu verhindern, dass diese Details aufgeklärt werden. Zahlen werden unter Verschluss gehalten, Auskünfte selbst vor Gericht verweigert. Die Recherchen dieser Zeitung offenbaren die wahre Dimension des Medaillenwahns in der Sportförderung.

In Athen holten die deutschen Leichtathleten zweimal Silber, in Peking einmal Bronze. Die Vorgabe für London: Eine Medaille im Sprint, drei in den Mehrkämpfen und Sprungdisziplinen, davon eine Gold, vier in den Wurfdisziplinen, auch davon eine Gold. Das steht in einer Zielvereinbarung. Und erfüllt der Deutsche Leichtathletik Verband (DLV) diese nicht, kann das zwei Konsequenzen haben: Entweder, das Ministerium zieht Mittel ab, als Strafe. Oder es stockt sie auf, weil das Geld für die gesteckten Ziele nicht reicht. Die Entscheidung fällt hinter verschlossenen Türen.

Das für den Sport zuständige Bundesinnenministerium (BMI) schreibt auf Anfrage, es gebe keinen Automatismus, keinen Zusammenhang zwischen Medaillenvorgaben und künftiger finanzieller Förderung. Kritiker behaupten, DOSB und BMI nutzen die Zielvereinbarungen, um unliebsame Verbände zu disziplinieren.

133 Millionen Euro Fördergeld

Das Bundesinnenministerium hat den Spitzensport im vergangenen Jahr mit knapp 133 Millionen Euro gefördert – Geld für Stützpunkte, Forschungseinrichtungen, Sportverbände. Was genau Schwimmer oder Leichtathleten in Medaillennähe bringt, das soll der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) bewerten, neutral. Als Dachverband der Sportverbände muss er zugleich deren Interessen gegenüber dem Ministerium vertreten. Damit ist der DOSB eine Institution mit zwei gegensätzlichen Aufträgen. Das ist das Grundproblem des deutschen Sports.

So erzählen die Leichtathleten von einer abenteuerlichen Verhandlung über ihre erste Zielvereinbarung, 2008 in Frankfurt beim DOSB. Man war sich einig über die Medaillenzahl und die Maßnahmen, die für dieses Ziel erforderlich sind: Trainerstellen, Lehrgänge, Projektmittel. Dann wurde das Geld zusammengestrichen, aber das Medaillenziel nicht. Der damalige DLV-Vizepräsident Eike Emrich war fassungslos: Er musste die vereinbarte Medaillenzahl mit zwei Dritteln des Geldes erreichen. „Es wird nur gehandelt, um zu handeln. Als wäre man an den Hof zitiert worden, um in einem großen Ritual vorgeführt zu bekommen, wie die Machtverhältnisse sind.“ Er zögerte wochenlang mit der Unterschrift, hoffte auf einen Sponsor, der ihn aus der Abhängigkeit befreit. „Dann haben wir doch unterschrieben. Sonst hätten wir viel zu lange auf das Geld gewartet. Oder es gar nicht bekommen.”

DOSB kontrolliert de facto die Vergabe von Steuermitteln an Sportverbände

So geht es vielen Verbänden: Leistung lässt sich beeinflussen, Medaillen nicht. Sie hängen ab von der Tagesform, Manipulationen im Feld, sogar vom Wetter. Der Diskuswerfer Robert Harting ist seit 28 Wettkämpfen ungeschlagen, er soll eine der beiden DLV-Goldmedaillen holen. „Aber wenn er bei seinen Würfen Rückenwind hat, wird er vielleicht nur Dritter“, sagt Emrichs Nachfolger Günther Lohre. „Ich frage mich, warum ich mich solchen Zielstellungen unterwerfen sollte?“

Mit den Zielvereinbarungen kontrolliert der DOSB de facto die Vergabe von Steuermitteln an Sportverbände. Kaum ein Verband traut sich, öffentlich zu protestieren. „Ich höre immer wieder von Verbandsvertretern, die Verhandlungen seien die pure Erpressung. Aber es herrscht eine Atmosphäre der Angst. Öffentlich äußert fast niemand Kritik”, sagt Martin Gerster, sportpolitischer Sprecher der SPD und Präsident des nicht-olympischen Sportakrobatik-Verbandes. „Die Zielvereinbarungen sind ein Machtinstrument des DOSB.” Martin Gerster sitzt im Sportausschuss des Bundestages. Selbst er und seine Parlamentskollegen kennen die Zielvereinbarungen nicht.

Vesper bestreitet den Vorwurf der Machtpolitik

Im Gespräch bestreitet DOSB-Generaldirektor Michael Vesper den Vorwurf der Machtpolitik. „Der DOSB ist der Dachverband aller Verbände und da wird nicht willkürlich nach sachfremden Kriterien entschieden, sondern nach Kriterien, die wir gemeinsam vereinbart haben.”

Verbandsvertreter und Wissenschaftler sind sich sicher: Enthalten die Zielvereinbarungen unrealistisch hohe Medaillenzahlen, ist der Anreiz zum Doping angelegt. Sportphilosoph Gunter Gebauer findet die Vorstellung absurd, dass Deutschland in der Welt daran gemessen werde, wie viele Goldmedaillen es gewinne. Derzeit dränge sich ihm dagegen vielmehr „der peinliche Eindruck auf, dass das Sportsystem der DDR über das der Bundesrepublik gesiegt hat.“ Der Frankfurter Sportpädagoge Robert Prohl sagt: „Im DOSB, aber auch im Innenministerium, ist offenbar noch nicht angekommen, dass der Kalte Krieg vorbei ist.“ Wofür braucht Deutschland Medaillen? „Ich habe das nie verstanden“, sagt Prohl. „Wir sollten selbstbewusst genug sein, uns vom Medaillenzählen zu lösen.“

INFOS ZUM TEXT

Die Autoren arbeiten weiter am Thema Steuergeld im Spitzensport. Unter www.derwesten-recherche.org gibt es Kontakt zu den Autoren und eine deutlich längere Version des Artikels.

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Die Recherchen für diesen Beitrag wurden durch ein Stipendium der Otto-Brenner-Stiftung gefördert und von der Journalisten-Vereinigung Netzwerk Recherche betreut.

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Wie wichtig ist der Medaillenspiegel?
Die Politik erwartet von deutschen Athleten, durch Leistung ein positives Bild im Ausland zu vermitteln. Mit der Medaillenzahl wird die millionenschwere Förderung des Spitzensports begründet. Lässt sich mit diesem Ziel auch der Anspruch vereinbaren, dass der olympische Sport sauber, fair und vorbildlich sein soll? Das Institut für Sportwissenschaften der Goethe-Universität in Frankfurt/Main und das Europäische Institut für Sozioökonomie e.V. in Saarbrücken führen dazu eine Online-Befragung durch. Die Umfrage dauert 15 bis 20 Minuten: www.soscisurvey.de/medaillenspiegel