Tokio. Florian Wellbrock glückt ein triumphaler Olympia-Abschluss. Nach Bronze über 1500 Meter gewinnt er im Freiwasserrennen Gold.

Der Odaiba Marine Park steht in Gänze dafür, wie sich das deutsche Olympia-Team die Tokio-Spiele vorgestellt hat. Von hier aus hat man über die auf einem Ponton schwimmenden fünf Ringe einen wunderbaren Blick auf die Regenbogenbrücke, dahinter schießen Hochhäuser wie Pilze aus dem Boden. In der Bucht der japanischen Hauptstadt sollte in einem Einkaufszentrum namens Aquatic City das Deutsche Haus untergebracht sein. Medaillengewinner wären dann auf Würdenträger und Gönner des Sports getroffen, hätten diese Spiele nur unter halbwegs normalen Bedingungen ausgetragen werden können. Und trotzdem schreibt Vorzeigeschwimmer Florian Wellbrock an dieser Hafenpromenade nun eine der schönsten schwarzrotgoldenen Geschichten dieser Olympischen Spiele.

Erste Goldmedaille für den Deutschen Schwimm-Verband seit 13 Jahren

Die Sonne ist keineswegs nachgiebig, nur weil eine Hupe bereits um 6.30 Uhr in der Frühe das 10-Kilometer-Rennen in der Tokio Bay freigibt. Gut Eindreiviertelstunde später klettert Wellbrock aus dem aufgewühlten Wasser. Er lässt sich auf den blauen Teppich fallen, ein Betreuer legt ihm ein nasses Handtuch über den Kopf. Der 23-Jährige japst nach Luft, zehn Kilometer im 29,2 Grad warmen Wasser müssen sich wie Sous-vide-Garen angefühlt haben. Wellbrock spannt mit letzter Kraft seine Oberarmmuskeln an, das passt zur ersten Goldmedaille für den Deutschen Schwimm-Verband seit 13 Jahren: „Das ist mein Sommermärchen“, sagt er.

Was für ein Triumph: Freischwimmer bejubelt auf dem Podium das neunte Gold für Deutschland bei Olympia in Tokio.
Was für ein Triumph: Freischwimmer bejubelt auf dem Podium das neunte Gold für Deutschland bei Olympia in Tokio. © Getty

Seinen Triumph zeichnen Erlösung nach einer Vergangenheitsbewältigung und Einmaligkeit ob des Rennausgangs zugleich aus. Britta Steffen hatte 2008 in Peking zuletzt für den DSV ganz oben auf dem Siegertreppchen gestanden; noch weiter muss man in der Liste deutscher Olympiasieger zurückgehen, das waren vor gar 33 Jahren in Seoul Albatros Michael Groß für die Bundesrepublik und Uwe Daßler für die DDR. Wellbrock, der bereits Bronze über 1500 Meter Freistil gewonnen hatte, holte nun das erste Freiwasser-Gold seit der Aufnahme der Wettbewerbe ins olympische Programm 2008. „Eine Medaille im Becken und im Freiwasser zu gewinnen, ist eine ganz andere Liga und spricht für sein Ausnahmetalent“, sagt Paul Biedermann (34), Weltrekordhalter über 200 und 400 Meter Freistil. Auch Franziska van Almick ist hin und weg: „Er ist zu einem fokussierten, klaren und ruhigen Athleten geworden“, erklärt die 43-Jährige. „Es ist vor allem seine mentale Stärke, die mich begeistert.“

Von Rennen zu Rennen steigerte sich Wellbrock in Tokio. Über 800 und 1500 Meter war der Doppelweltmeister von 2019 im Becken jeweils bis zur letzten Wende auf Goldkurs, holte dann nur über die längere Distanz Bronze. „Ich hatte tatsächlich ein bisschen Frust nach den Beckenwettkämpfen, das hat mich für das letzte Rennen aber extrem motiviert“, sagt Wellbrock. „Ich habe es zwar vorher nicht öffentlich gesagt, aber wenn man als Weltmeister zu den Olympischen Spielen reist, will man auch gewinnen.“

Das macht Wellbrock, der in Magdeburg unter Bundestrainer Bernd Berkhahn zum Weltklasse-Athleten reifte, im Odaiba Marine Park von Beginn an klar: Die sieben Runden zu je 1,43 Kilometer gleichen einem Marsch durch die Wüste, werden aber zum Start-Ziel-Sieg. Um mit dem sogleich enteilten Deutschen mitzuhalten, lässt der Franzose Marc-Antoine Olivier, Dritter 2016 in Rio und Vize-Weltmeister, sogar die erste Versorgungsstation aus. Dabei spart Wellbrock sogar noch tatsächlich Kräfte: „Ich bin in der ersten Runde um die Boje rum, habe mich umgeschaut und dachte: Jungs, wollt ihr keinen Wettkampf heute? Ich glaube, viele waren von der Wassertemperatur eingeschüchtert.“

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Die Machtdemonstration geht weiter. Der Führende erwehrt sich Angriffen der Verfolger, mit langen Armzügen kontrolliert er das Feld. Wo manche Konkurrenten Schaufelraddampfer an den Händen benötigen, um sich durch das Wasser zu pflügen, gleitet er geschmeidig durch das Hafenbecken. Auch der beste Schlussspurt ist Wellbrock sicher: Er siegt in 1:48:33,7 Minuten vor dem Ungarn Kristof Rasovszky (1:48:59,0) und Gregorio Paltrinieri (1:49:01,1). Der Italiener, der Wellbrock über 800 Meter noch eine Medaille abgeluchst und Silber gewonnen hatte, sagt nun beeindruckt: „Florian ist heute geschwommen wie von einem anderen Planeten.“

Florian Wellbrock: Schwerer Schicksalsschlag im Jahr 2006

Verhältnismäßig spät traute sich der gebürtige Bremer aus dem Becken ins Freie. Mit 13, 14 Jahren wurden die Gleichaltrigen immer größer und breiter – Schmalhans Florian erkannte, dass sich seine Kondition auf Langstrecken besser auszahlen könnte. Beim Schwimmen durch die Weser ließ er sich auch nicht vom Unrat oder zuweilen einer entgegentreibenden toten Kuh beeindrucken. Wellbrock hatte zu diesem Zeitpunkt bereits einen schweren Schicksalsschlag verarbeiten müssen: Er war neun, als seine Schwester Franziska 2006 nach einem Weihnachtsschwimmen im Bremer Umland zusammenbrach und nicht mehr aufwachte. Ihr zuliebe hat er sich „Genieß dein Leben ständig, du bist länger tot als lebendig“, eine Liedzeile des Rappers Sido, auf die Brust tätowieren lassen. „Es war ein Schock, die Schwester verloren zu haben“, sagte er mal der Magdeburger Volksstimme. „Aber ich habe es eigentlich nicht richtig verstanden. Ich habe einfach weitergemacht.“

Im letzten Wettkampf in Tokio haben sich nun doch noch alle Strapazen ausgezahlt. „Wenn ich mir den Verlauf dieser Spiele ansehe, dass ich von Rennen zu Rennen immer stärker geworden bin, gibt das viel Selbstbewusstsein und Motivation für die Zukunft.“ Erster Olympiasieger im Becken und Freiwasser kann Florian Wellbrock ja noch 2024 in Paris werden.