Tokio. Seine Duelle mit Jürgen Hingsen elektrisierten die Welt: Daley Thompson (63) spricht im Interview über die Königsdisziplin Zehnkampf.

Ein 100-Meter-Sprint fasziniert für nicht einmal zehn Sekunden, ein Zehnkampf dagegen elektrisiert die Leichtathletik-Fans über zwei Tage. Am Mittwoch und Donnerstag wird bei den Olympischen Spielen in Tokio der König der Athleten ermittelt: Favoriten sind der französische Weltrekordhalter Kevin Mayer (29/9126 Punkte) und der Kanadier Damian Warner (31); der deutsche Weltmeister Niklas Kaul (23) hofft, in den Medaillenkampf eingreifen zu können.

Die Geschichte dieser Disziplin ist voll von packenden Zweikämpfen. Die packendsten haben sich Daley Thompson (Bestmarke 8811 Punkte) und seine deutschen Widersacher wie Jürgen Hingsen, der durch seine drei Fehlstarts 1988 in Seoul unvergessen ist, in den 80er Jahren geliefert. Ein Gespräch mit dem heute 63 Jahre alten Briten und zweimaligen Olympiasieger Thompson über diese besondere Rivalität, eine Revanche am Strand von Mauritius und eine entscheidende Frage, die sich Niklas Kaul stellen muss.

Herr Thompson, Sie scheinen noch immer in sehr guter Form zu sein. Würden Sie heute noch einen Zehnkampf durchstehen?

Daley Thompson: Dankeschön. Ich fahre viel Rad, rudere und gehe ins Fitnessstudio. Aber zu Ihrer Frage: Da bin ich mir nicht wirklich sicher.

Woran könnte es scheitern?

An meiner Geschwindigkeit. Von der aktuellen Muskelmasse her könnte ich es aber eigentlich noch mal probieren.

Dann betrachten wir den Zehnkampf doch mal von einer anderen Seite: Was sind Ihre zehn wichtigsten Disziplinen, Aufgaben, Vorhaben im normalen Leben?

Hui, zehn? Wenn ich ehrlich bin, habe ich nur eine konkrete Disziplin: dafür zu sorgen, dass es meinen Kindern, die zwischen 33 und 15 Jahre alt sind, gut geht, dass sie gesund bleiben und das Leben führen, das sie wollen. Ich kann zum Glück sagen: Es geht ihnen allen gut. Und wissen Sie was?

Bitteschön.

In drei Jahren kümmere ich mich dann um mich selbst. Ich zähle schon die Tage (lacht).

Legendäre Duelle: Die Zehnkämpfer Daley Thompson und Jürgen Hingsen elektrisierten in den 80er-Jahren die Sportwelt.
Legendäre Duelle: Die Zehnkämpfer Daley Thompson und Jürgen Hingsen elektrisierten in den 80er-Jahren die Sportwelt. © Getty | Unbekannt

Sie waren in den 80er Jahren eine der Ikonen der Leichtathletik – an der Seite von Carl Lewis, Sergej Bubka oder Heike Drechsler. Wie haben Sie es geschafft, mit all dem Ruhm zurecht zu kommen, den Olympiasiege und Weltrekorde mit sich brachten?

Mich hat der ganze Rummel nie interessiert, es war nie mein Ziel, berühmt zu sein. Was ich schon wollte: der Beste in meinem Sport zu sein, ganz klar. Da ich zu der Zeit alles für meinen Zehnkampf gegeben habe, fiel es mir auch nicht schwer, mich um Schlagzeilen und Ruhm nicht zu kümmern. Sehen Sie, Carl und Heike hatten doch nur das Sprinten und den Weitsprung, die mussten doch viel weniger trainieren als ich (lacht).

Dass Sie die englischen Medien haben links liegen lassen, als Sie immer populärer wurden, hat Ihnen aber auch Probleme eingebracht.

Als Athlet haben sie mich respektiert, als Mensch haben sie mich nicht gemocht. Die Denkweise englischer Medien war noch sehr altbacken: Ich sollte jedes Mal dankbar dafür sein, dass ich ein Interview mit ihnen machen durfte – anstatt dass sie dankbar waren, mit mir sprechen zu können.

In unserem Gespräch gilt das für mich, kann ich Ihnen versichern.

Ich freue mich ja auch, mit Ihnen zu sprechen. Das hat nämlich mit gegenseitigem Respekt zu tun. Wir haben uns damals gebraucht, die Medien mich wie ich die Medien. Dass ich ihnen damit aber auch einen Gefallen getan habe, wollte nicht so ganz in ihre Köpfe.

Die 80er gelten auch als das große Doping-Jahrzehnt der Leichtathletik. Wurden Sie jemals damit konfrontiert, auch unerlaubte Mittel zu nehmen?

Nein, das hätte ich auch nie angenommen. Ich hatte ja ein anderes Dopingmittel, ein legales, versteht sich: die Deutschen. Sie sind noch jung, kriegen Sie all meine Konkurrenten zusammen?

Aber klar: Siggi Wentz, Christian Schenk, Guido Kratschmer, und natürlich ganz besonders: Jürgen Hingsen. Sehen Sie es mir nach, dass ich damals kein Fan von Ihnen war.

Es war schön, mit Ihnen zu sprechen… Im Ernst: Es war trotzdem erstaunlich, wie viel Zuspruch ich damals aus Deutschland kam. Beinahe wöchentlich gingen zehn bis 15 Anfragen nach Bildern und Autogrammen bei mir ein.

Mit seinem früheren Rivalen Jürgen Hingsen ist Daley Thompson heute noch freundschaftlich verbunden.
Mit seinem früheren Rivalen Jürgen Hingsen ist Daley Thompson heute noch freundschaftlich verbunden. © dpa | Unbekannt

Zu der Zeit war das deutsch-britische Verhältnis noch nicht so gut. Haben Ihre denkwürdigen Zehnkampf-Duelle geholfen, zuvor im Krieg zwischen beiden Nationen zerstörte Brücken wieder zu reparieren? Der Engländer, der Deutsche, der Schwarze, der Weiße…

Ich mache weiter: der Gutaussehende, der Nichtsogutaussehende, der Lustige, der Nichtsolustige (lacht). Das ist ein interessanter Gedanke. Der größte Respekt, den ich Jürgen zollen kann, ist: Ich habe an 350 Tagen im Jahr trainiert und konnte keinen einzigen Tag davon auslassen, weil er so gut war. Ohne Jürgen wäre ich nur halb so bekannt. Diese Rivalität ist es, die andere Menschen aufmerksam gemacht hat. Und so kommen wir dann wieder zum Brückenbilden: Die Leute haben gesehen, dass der Engländer und der Deutsche, der Schwarze und der Weiße, mit Anstand und Respekt sportlich konkurrieren können. Ich würde nicht so weit gehen, dass wir das politische Klima geändert haben. Aber wir haben die Menschen damals bestimmt berührt und beeinflusst.

Sie waren der Londoner Junge aus der Arbeiterklasse, Hingsen der extrovertierte Duisburger, den Sie aufgrund seiner Statur Herkules und Hollywood-Hingsen nannten.

Das war wegen seiner damaligen Frau, die aus Kalifornien stammt. Wir haben die Leute unterhalten. Vor allem aber mit unserem Sport. Jürgen hat mir zweimal den Weltrekord weggeschnappt, unsere Bestleistungen lagen immer so nah beieinander. So etwas braucht die Leichtathletik auch heute noch. Der schönste meiner 19 Siege war aber nicht bei den Olympischen Spielen.

Wo denn sonst, bitte?

In Stuttgart. 1986 bei der Europameisterschaft. Zehnkämpfer erfahren in Deutschland sehr viel Anerkennung. Sie in ihrem Zuhause besiegt zu haben, das war schon speziell.

Zumindest in dieser Disziplin gibt es heute aber keine spannenden Vergleiche mehr zwischen beiden Ländern. Was ist in England mit Ihrem Sport passiert?

Meine Landsleute wollen sich nicht mehr durch die ganze Trainingsarbeit quälen. Wer bei uns Talent hat, konzentriert sich auf den Sprint oder Weitsprung – weil einem dort schnellere Aufmerksamkeit sicher ist.

Daley Thompson, heute 63 Jahre alt, hält große Stücke auf den deutschen Zehnkämpfer Niklas Kaul.
Daley Thompson, heute 63 Jahre alt, hält große Stücke auf den deutschen Zehnkämpfer Niklas Kaul. © Getty | Unbekannt

Deutschland hätte einen guten Gegner für englische Zehnkämpfer: Niklas Kaul.

Oh ja, ich sah ihn bei der Weltmeisterschaft 2019 in Doha. Ein guter Junge.

Was erwarten Sie von ihm? Was sind seine Stärken? Er ist ja noch sehr jung.

Eine seiner Stärken ist, dass er noch so jung ist. Er ist jetzt schon Weltmeister, aber er muss noch viel lernen und sich auf Meetings konstant zeigen, damit er Kevin Mayer eines Tages richtig gefährden kann.

Kaul profitierte von Mayers Verletzung bei der WM. Wird der Franzose in Tokio unschlagbar sein?

Das kann schon sein. Aber Euer Junge nimmt von so einem Erlebnis, von so einem Erfolg Selbstvertrauen mit. Und das kann schon mal 200 Punkte ausmachen. Wenn Mayer nicht voll auf der Höhe ist, können diese 200 Punkte auch die Lücke kleiner werden lassen.

Die 1500 Meter sind die letzte quälende Aufgabe im Zehnkampf. Sagen Sie vorab Niklas Kaul doch mal, wie man sich als Olympiasieger danach fühlt – vielleicht kann er das ja in Tokio schaffen.

Ob er das hinbekommt, kann ich nicht sagen. Dafür kenne ich ihn nicht gut genug. Aber wenn er es in Tokio schaffen sollte, wird er vor einer wichtigen Frage stehen: ob das für ihn der Anfang oder das Ende sein soll.

Wie meinen Sie das?

Es ist okay, einmal Olympiasieger werden zu wollen. Aber es ist etwas anderes, seinen Sport über Jahre dominieren, erst einmal und dann vielleicht auch noch zwei- oder sogar dreimal Olympiasieger werden zu wollen. Als ich 1980 in Moskau gewonnen hatte, wollte ich vier Jahre später in Los Angeles gewinnen. Als mir das gelungen war, wollte ich das dritte Gold 1988 in Seoul. Das hat zwar nicht geklappt, aber eben die beiden Male davor. Kaul muss sich das überlegen. Zum Glück ist er ja noch jung.

Dann also noch einmal zu den Oldies, zu Ihnen und Jürgen Hingsen. In Deutschland gibt es ein TV-Format, bei dem sich Stars vergangener Tage wiedersehen und…

Oh, nein, ich weiß, worauf Sie hinaus wollen. Das haben wir einmal gemacht – ohne TV-Kameras –, als Jürgen 50 Jahre wurde. Da waren wir gemeinsam mit unseren Familien im Urlaub auf Mauritius. Ich habe am Strand eine Kokosnuss gefunden, die haben wir erst geworfen. Dann sind wir gesprungen und auch noch gerannt. Jürgen und ich – das hört nie auf.