Tokio. Deutschlands Paradeboot verpasst Gold und freut sich über Silber. Der scheidende Cheftrainer fordert eine Neuausrichtung im Rudern.

Ein Ruderrennen ist ein Kampf über 2000 Meter gegen die Schmerzen. Irgendwann kommt der Punkt, an dem der noch funktionstüchtige Rest des Körpers die Macht über den Kopf übernimmt. „Wenn bei mir das Schwarze vor die Augen kommt“, sagt der Schweriner Hannes Ocik, Schlagmann des Deutschlandachters, „ist bei den anderen meist schon alles dunkel.“

Bei Laurits Follert (Duisburg) kommt dieser Moment am Freitagmorgen 750 Meter vor dem Ziel: „Da gingen alle Lichter aus“, sagt er. Arme und Beine brennen, das Herz pocht beinahe bis zum Vordermann – weiter geht das Rennen nur noch im Unterbewusstsein.

Steuermann Martin Bauer: Wir sind glücklich über Silber

Im Ziel des Olympischen Finals angekommen, lässt sich Torben Johannesen (Hamburg) nach hinten auf die Beine von Olaf Roggensack (Berlin) fallen. An Land taumelt Jakob Schneider (Essen) beinahe orientierungslos über den Bootssteg, auf dem Malte Jakschik (Castrop-Rauxel) als Erstem die Sinne zurückkommen: Er geht das 17,50 Meter lange Boot ab und umarmt jeden seiner Mitruderer. Sagen kann er es noch nicht, so sehr hat sich der 27-Jährige in den vergangenen 5:25,60 Minuten verausgabt. Aber in Jakschiks Augen steht geschrieben: Jungs, wir haben das Rennen gewonnen, wir haben die Medaille.

Deutschlands Paradeboot: (v.l.) Johannes Weißenfeld, Laurits Follert, Olaf Roggensack, Torben Johannesen, Jakob Schneider, Malte Jakschik, Richard Schmidt, Hannes Ocik, und Martin Sauer.
Deutschlands Paradeboot: (v.l.) Johannes Weißenfeld, Laurits Follert, Olaf Roggensack, Torben Johannesen, Jakob Schneider, Malte Jakschik, Richard Schmidt, Hannes Ocik, und Martin Sauer. © dpa

Der Schönheitsfehler: Der Deutschlandachter, eine der Hauptattraktionen des deutschen Sports, hat nicht das Rennen um Gold, sondern um Silber gewonnen. Der Olympiasieg war den Neuseeländern nicht zu nehmen, die während der Corona-Pandemie nahezu verschwunden waren von der internationalen Bühne. „Was sie nun gemacht haben, war bärenstark“, sagt Richard Schmidt, wie Steuermann Martin Sauer (beide Berlin) noch aktiver Olympiasieger von 2012. „Wir sind sehr glücklich, uns die Silbermedaille gesichert zu haben.“

Man hätte beinahe von einem Heimvorteil für den Deutschlandachter, zu Hause auf dem Dortmund-Ems-Kanal, sprechen können. Die Strecke am Sea Forest Waterway in der Bucht von Tokio liegt mitten in einem Industriegebiet. Als der Startschuss zum Finale fällt, setzen nebenan Transportkräne Container wie Legosteine aufeinander. Das Wetter am Renntag könnte kaum ruhrpottlerischer sein: Im Grau-in-Grau am Himmel gehen von der Spitze des 332 Meter hohen Tokio Skytrees Wolken ab, als würde es auch einem Schlot rauchen.

Trainer Uwe Bender: Wir sind am Optimum gefahren

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Bis zur Hälfte der 2000 Meter ist das vom Mythos umwehte Flaggschiff des deutschen Ruderverbandes Zweiter. Dann zieht Neuseeland davon und siegt mit 0,96 Sekunden oder umgerechnet fünf Metern Vorsprung auf den Weltmeister der Jahre 2017 bis 2019. Großbritannien (+ 1,09) holt Bronze. Bei der Bewertung des Rennens sind sich die Mannen von Trainer Uwe Bender nach erster Enttäuschung aber schnell einig. Follert: „Von den ersten Olympischen Spielen mit einer Medaille nach Hause zu fahren, ist überragend.“ Ocik: „Wir sind nahezu am Optimum gefahren – mehr ging nicht.“ Johannesen: „Wir haben Silber gewonnen und nicht Gold verloren.“

Und doch endeten nun erstmals seit 2008 in Peking die olympischen Ruderwettbewerbe ohne einen Triumph des erfolgsverwöhnten DRV. „Zweimal Silber – ich kann damit leben“, sagt Ralf Holtmeyer. Die Milde beim 65 Jahre alten Chef-Bundestrainer, der das Paradeboot 1988 in Seoul sowie 2012 in London zum Sieg coachte, rührt nicht von seinem bevorstehenden Eintritt ins Rentenalter her.

Der Achter und der Leichtgewichts-Doppelzweier mit Jonathan Rommelmann (Mülheim) und Jason Osborne (Mainz) ruderten aufs Podest. Der Doppelvierer der Frauen war bis zu einem technischen Missgeschick auf Silberkurs; Einer-Ass Oliver Zeidler, der am Freitag wenigstens das B-Finale gewann, hatte in seinem Halbfinale Wetterpech.

Bei Holtmeyer fällt zum Ende seiner letzten Olympischen Spiele die Spannung ab. „Tokio“, sagt er andächtig und holt aus. „1964 hat hier der Berliner Ruder-Club den Vierer mit Steuermann gewonnen. Das ist über ein halbes Jahrhundert her.“ Er kritisiert deutsche Vereinsmeierei, dass immer noch Klubboote die nationalen Farben bei Großereignissen vertreten sollen. „Wenn wir in der Denke weiter verhaftet sind – und das sind zwei, drei große Klubs –, dann kommen wir nicht weiter. Welche Nation schickt noch Vereinsboote zu Olympia? Ich kenne keine.“

Cheftrainer Ralf Holtmeyer fordert eine Neuausrichtung

Holtmeyer wünscht sich eine Zentralisierung, wie sie die Neuseeländer und Engländer praktizieren. Denn: Bei bis zu vier unterschiedlichen Trainern (Nationalteam, Landesauswahl, Stützpunkt, Verein) ergäbe sich bisher keine einheitliche Linie. Wer daran etwas ändern könne? „Ich nicht“, sagte Holtmeyer. „Wer hat die Macht im deutschen Sport? Gibt’s den politischen Willen, in Deutschland Erfolg im Sport zu haben? Ich weiß nur: Wir lieben den Erfolg – aber nicht den Weg dorthin.“

Der Achter wird sich neu aufstellen, auch manche seiner jetzigen Silber-Fahrer orientieren sich neu. Hannes Ocik überlegt gerade, sich in der Sportpolitik einzubringen. „Die gesellschaftliche Anerkennung des Leistungssports geht in Deutschland immer weiter flöten“, sagt der 30-Jährige, „ich habe ein großes Interesse, meine Stimme zu nutzen.“ Wenn er nicht selbst genügend Ansätze hätte: Ralf Holtmeyer könnte ihm sicher den ein oder anderen Anstoß mit auf den Weg geben.