Tokio. Zwei von vier Entscheidungen sind gefallen - beide Olympiasiege gingen beim Skateboarden an Japan. Doch beliebt ist die Sportart dort nicht.
Wer durch die Innenstadt von Tokio geht, fast egal wo in dieser Riesenmetropole, wird einer Gruppe so gut wie nie begegnen: Skateboardern. Im für seine Größe von rund 37 Millionen beeindruckend stillen und geordneten Ballungsraum ist kein schepperndes Rollen zu hören, kein Jubeln nach einem gelungenen Sprung und auch keine durch Lautsprecher gehämmerte Musik. Man müsste denken, Tokio sei die einzige Metropole der Welt, die zwar hochwertigen Asphalt, aber keine Skaterkultur hat.
Dieser Tage wird die Welt eines Besseren belehrt. Bei den Olympischen Spielen von Tokio gehört Skateboarding, die um die 1960erJahre in den USA begonnene Trendsportart, erstmals zum Wettkampfprogramm. Neben den neu eingeführten Disziplinen Klettern, 3x3-Basketball und Surfen zählt für das Internationale Olympische Komitee (IOC) auch Skateboarding zu den Hoffnungsträgern, um mehr junges Publikum für die größte Sportveranstaltung der Welt zu begeistern – sowohl als Zuschauer als auch als Athleten.
Sportlerinnen und Sportler sind noch Kinder
Für Frauen und Männer gibt es jeweils Wettbewerbe im Park und auf der Straße. Wobei der Verweis auf Frau und Mann irreführend ist – weil viele der Athleten, die auf dem Board Figuren vorführen, um dafür von einer fünfköpfigen Jury möglichst viele Punkte zu erhalten, noch lange nicht erwachsen sind.
Die jüngste Teilnehmerin, die britisch-japanische Sky Brown, ist gerade zwölf Jahre alt geworden. Geboren wurde sie in Japan, sie tritt aber für Großbritannien an. Nur unwesentlich älter ist die 13-jährige Japanerin Momiji Nishiya, die am Montag den Wettbewerb der Frauen gewann. Bronze ging an ihre Landsfrau Funa Nakayama (16), die 19-jährige Favoritin Aomi Nishimura musste sich mit Platz acht begnügen. Der 22-jährige Weltmeister Yuto Horigome gewann am Sonntag Gold bei den Herren. Die Gastgeber räumten eine Medaille nach der anderen ab – und das ist keine Überraschung.
Skateboarden kommt aus den USA
Ihnen ist eine blitzsaubere Technik anzusehen, die von großem Fleiß zeugt. Der von ihnen geprägte Stil zeichnet sich durch eine Art Perfektion aus, die man auch aus japanischen Kampfsportarten kennt. Präzision und die korrekte Durchführung vorgegebener Form trumpfen Kraft und manchmal auch Spontaneität.
Das passt zur geschmeidigen Unsichtbarkeit der Skateboarding-Szene in Japan. Wer in Tokio auf dem Weg zu einem der meist gut versteckten Skaterparks ist, fährt nicht etwa auf dem Board über den Gehweg oder gar auf der Straße. Man trägt einen großen Rucksack auf dem Rücken, in den möglichst das ganze Board passt, damit niemand es sehen kann. Als Skateboarding um die 1990erJahre nach Japan kam, galt das Hobby schnell als Beschäftigung schlecht erzogener Kinder oder Jugendkrimineller. Und in einer Gesellschaft, in der es als äußerst wichtig gilt, was Andere von einem denken, wollten die jungen Boardliebhaber nicht unangenehm auffallen.
Es ist das krasse Gegenteil zur Szene in Europa, wo Skateboards zu einer ähnlichen Zeit modern wurden. Aus TV-Serien der USA kannte man die zerzausten Frisuren, die die Skater trugen, genauso wie die zerrissenen Hosen und die übergroßen T-Shirts. Und man versuchte sie zu imitieren. Mit einem Board unter den Füßen zeigte die Jugend ihren Eltern, dass sie sich nichts sagen lassen wollte.
Wie anarchisch ist der einst wilde Sport noch?
Mit einer anarchischen Einstellung entwickelte sich die Szene an ihrem Ursprungsort Kalifornien nicht nur als Lifestyle, sondern auch als Kunstform. „Wir waren einfach Kids, die nachmittags am liebsten Spaß haben wollten“, sagte Tony Hawk, früher Star der US-amerikanischen Skaterszene.
Kritiker sind mit der Aufnahme von Skateboarding ins Olympiaprogramm nicht recht einverstanden. Schließlich wird dadurch ein einst völlig freies Hobby in ein Regelwerk gegossen, das es zu befolgen gilt, wann man eine Medaille gewinnen will. Den japanischen Gastgebern kommen die eng definierten Regeln zugute. Wobei das Skateboarding dadurch ein gutes Stück seiner einstigen Anarchie verlieren könnte.