Doha. Der „Koloss aus Oberfischbach“ rückte nach, weil andere verletzt sind. Diese Gunst der Stunde will er in Doha nutzen.
Als wir ihn an diesem Dienstagnachmittag via Whatsapp-Anruf erwischen, ruht sich Jonas Schreiber gerade in seinem Hotelzimmer aus. Nach einem 90-minütigen Vormittagstraining genießt er diese Verschnaufpause. „Heute wird aber nichts mehr gemacht, sondern jetzt wird erstmal gegessen“, freut sich der Oberfischbacher auf die Kalorienaufnahme, „denn morgen wird ja schon wieder trainiert.“
Der 22-Jährige gehört zum 17-köpfigen Aufgebot des Deutschen Judobundes für die Weltmeisterschaft, die am Sonntag in Doha, der Hauptstadt Katars, eröffnet wurde. Für Jonas Schreiber ist es nach Taschkent (Usbekistan) im vergangenen Oktober die zweite Teilnahme an einer WM im Einzel. Bis zu seinem ersten Einsatz im Wüstenstaat ist es noch ein bisschen hin. Erst am Samstag wird es für den Bundesliga-Kämpfer der SU Annen in seiner Klasse ernst.
Punkte für Paris 2024
Über 650 Athleten aus 99 Nationen haben für die WM gemeldet. In fast allen Gewichtsklassen sind ca. 50 Kämpfer am Start.
Die Titelkämpfe sind auch deshalb von Bedeutung, weil hier wichtige Qualifikationspunkte im Hinblick auf die Olympischen Sommerspiele 2024 in Paris vergeben werden.
Die deutschen Athleten, darunter Jonas Schreiber, haben sich in mehreren Trainingscamps auf die WM vorbereitet.
„Ich habe ein Hammer-Los erwischt“, sagt Jonas Schreiber mit Blick auf seinen Auftaktgegner in der Gewichtsklasse plus 100 Kilogramm. Ihm wird der Russe Tamerlan Bashaev (27) gegenüberstehen. Ein Russe? Ja. Die International Judo Federation hat sich als einer von bislang wenigen Fachverbänden dazu durchgerungen, russische und weißrussische Kämpferinnen und Kämpfer bei dieser WM unter strengen Auflagen zuzulassen - eine Entscheidung, die bei vielen Judoka nicht gut ankommt, auch nicht bei Jonas Schreiber: „Das kam für uns alle überraschend und hat dazu geführt, dass jetzt alle ukrainischen Sportler ihre Teilnahme zurückgezogen haben. Von daher hat es einen faden Beigeschmack.“
Nun, Jonas Schreiber wird trotzdem oder gerade deshalb hochmotiviert in das ungleiche Duell gegen den Bronzemedaillengewinner der Olympischen Spiele 2021 in Tokio und WM-Zweiten 2021 gehen. Sollte der am Olympia-Stützpunkt in Köln trainierende Siegerländer für eine Sensation sorgen, wäre sein nächster Gegner ein ähnliches Kaliber: Der Japaner Kokoro Kageura (27), der in der ersten Runde ein Freilos hat, ist Weltranglisten-Neunter, amtierender Asien-Meister sowie ehemaliger Weltmeister.
Problem mit Russen-Teilnahme
Als einer der Jüngsten im deutschen Aufgebot spürt Jonas Schreiber keinen Druck, erlegt sich auch selbst keinen auf. „Ich habe nichts zu verlieren. Ich will Spaß haben und das zeigen, was ich trainiert habe“, sagt er. Bei den European Open vor kurzem in Rom überzeugte das Schwergewicht mit einem zweiten Platz. Danach ließ es bei den so hochkarätig wie eine Weltmeisterschaft besetzten Grand-Slam-Turnieren auch deshalb nicht so gut, weil er noch von den Folgen einer Corona-Infektion nicht im Vollbesitz seiner Kräfte war. Nach einer zweiwöchigen Trainingspause, dem folgenden Trainingslager in Ungarn und der nationalen Vorbereitung in Kienbaum bei Berlin ist die Form inzwischen aber viel besser geworden.
„Ich fühle mich gut“, sagt Jonas Schreiber und will zeigen, dass er bei dieser WM nicht nur die dritte Wahl ist. Denn den Flieger Richtung Persischen Golf durfte der Siegerländer nur deshalb steigen, weil mit dem Potsdamer Erik Abramov und dem für Düsseldorf kämpfenden Troisdorfer Johannes Frey zwei vermeintlich stärkere Konkurrenten in der Gewichtsklasse über 100 kg verletzt ihren Einzelstart absagen mussten. „Diese Gunst der Stunde will ich nutzen“, gibt sich Jonas Schreiber kämpferisch, wohlwissend, dass die WM für ihn bereits nach dem ersten Kampf am Samstag zu Ende sein könnte...