Oberhausen. Am 1. Juli vor 40 Jahren hat Mittelstreckler Willi Wülbeck aus Oberhausen über 1000 Meter deutschen Rekord gelaufen. Der steht heute noch.

Einmal, am 9. August 1983, hat er die ganze (Sport-)Welt in Erstaunen versetzt. Fast 40 Jahre später gibt es Tage, da ist Willi Wülbeck immer noch von sich selbst überrascht. „Manchmal“, sagt er und muss schmunzeln, „da habe ich richtig Ehrfurcht vor mir selbst.“ Wer den 65-jährigen Oberhausener kennt, der stets mit beiden Beinen auf dem Boden geblieben ist und außerhalb der Laufbahn eher das Rampenlicht gescheut hat, weiß diesen Satz einzuordnen.

Wenn Wülbeck in Erinnerungen schwelgt, geht es freilich keineswegs ausschließlich um den Lauf seines Lebens, den sensationellen Sieg im 800-Meter-Finale der Leichtathletik-WM im alten Olympiastadion der finnischen Hauptstadt Helsinki. Nein, er denkt auch gern an ein Ereignis, das in Vergessenheit geraten ist und ein Anwärter für die 500.000-Euro-Frage bei „Wer wird Millionär?“ wäre. Am 1. Juli wird der älteste deutsche Lauf-Rekord 40 Jahre alt. Aufgestellt wurde er – was jetzt unschwer zu erraten ist – von Willi Wülbeck, der 1980 im Bislett-Stadion von Oslo die heute kaum noch gelaufene 1.000-Meter-Strecke in 2:14,53 Minuten zurücklegte.

Das Rennen auf der norwegischen Traditionsbahn ganz nahe der Innenstadt von Oslo beendete der Oberhausener Junge, der von 1978 an für den TV Wattenscheid startete, als Zweiter hinter dem Briten Sebastian Coe, der mit 2:13,40 Minuten Weltrekord lief. Coe, heute Präsident des Leichtathletik-Weltverbandes, war in diesem Moment der erste Läufer, der gleichzeitig die Weltrekorde über alle vier Mittelstrecken (800, 1000, 1500 Meter, und eine Meile/umgerechnet 1609 Meter) hielt, bis ihm 45 Minuten später sein Landsmann und Dauerrivale Steve Ovett den Meilen-Weltrekord (3:48,8 Minuten) abjagte.

Nebenbei: Das 2004 abgerissene und neu aufgebaute Bislett-Stadion, das von der US-Zeitschrift „Sports Illustrated“ zu den fünf schönsten Sportarenen des 20. Jahrhunderts gezählt wurde, war Schauplatz von mehr als 60 Leichtathletik-Weltrekorden

Ovett siegt an der Wedau

Steve Ovett ist übrigens jener Läufer, der Willi Wülbeck sieben Jahre zuvor den ersten großen internationalen Titel weggeschnappt hatte. Bei den Junioren-Europameisterschaften 1973 im Duisburger Wedaustadion musste sich der Lokalmatador in 1:47,57 Minute dem Engländer nur um vier Hundertstelsekunden geschlagen geben.

Der WM-Sieg von Helsinki am 9. August 1983: Willi Wülbeck siegt vor dem Niederländer Rob Druppers und Joachim Cruz aus Brasilien, Hans-Peter Ferner (ganz hinten) wird Siebter.
Der WM-Sieg von Helsinki am 9. August 1983: Willi Wülbeck siegt vor dem Niederländer Rob Druppers und Joachim Cruz aus Brasilien, Hans-Peter Ferner (ganz hinten) wird Siebter. © Unbekannt | dpa Picture-Alliance

Drei Jahre später trafen sich die beiden aufstrebenden jungen Läufer im olympischen 800-Meter-Finale von Montreal wieder – und diesmal lag Wülbeck als Vierter knapp vor Ovett. Gold holte der Kubaner Alberto Juantorena in der Weltrekordzeit von 1:43,50 Minute vor dem Ende Dezember 1976 auf dem Weg ins südfranzösische Trainingslager tödlich verunglückten Belgier Ivo Van Damme und dem US-Amerikaner Rick Wohlhuter.

Startverbot wegen Olympia-Boykott

Das 1000-Meter-Rennen von Oslo am 1. Juli 1980 war ein deutlicher Fingerzeig dafür, dass Wülbeck, der zwischen 1974 und 1983 zehnmal in Folge deutscher 800-Meter-Meister wurde, bei den 18 Tage später beginnenden Olympischen Spielen in Moskau zum Favoritenkreis über 800 Meter gehört hätte. Aber der durch den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan ausgelöste Boykott vieler westlicher Nationen, unter ihnen Deutschland, machte seine Träume zunichte.

Großbritannien dagegen trat in Moskau an. Ovett gewann Gold über 800 Meter vor seinem Landsmann Coe, der sich mit dem Olympiasieg über 1500 Meter später revanchierte.

Vorlauf bei der EM verpasst

In Wülbecks Karriere wechselten sich Licht und Schatten ab. Spektakulären Siegen beim Europacup 1977 und 1983 standen etwa Enttäuschungen bei den Europameisterschaften gegenüber. 1978 in Prag, als er zu den Mitfavoriten zählte, verpasste er wegen eines Missverständnisses in der Aufwärmhalle seinen Vorlauf und musste sich danach von der Zeitung mit den großen Buchstaben als „Schlaftablette“ verspotten lassen.

Bei seinem nächsten EM-Auftritt vier Jahre später spielte der Schlaf dann wirklich eine große Rolle für den begabten Läufer, der trotz aller Erfolge immer wieder von Selbstzweifeln geplagt wurde. Nach durchwachter Nacht, wie er Freunden erst viel später verriet, lief er im Finale von Athen mit müden Beinen dem Feld hinterher und musste als Achter und Letzter mit ansehen, wie der von ihm vorher und nachher immer geschlagene deutsche Konkurrent Hans-Peter Ferner (Ingolstadt) völlig überraschend Europameister wurde. Vor Sebastian Coe. Umso bemerkenswerter Wülbecks „Comeback“ ein Jahr später, mit dem er alle Kritiker, die den sensiblen Läufer schon in die Schublade „nationale Größe“ abgelegt hatten, Lügen strafte.

Sebastian Coe liegt in Oslo vorn

Aber zurück zu Oslo 1980: Obwohl Wülbecks 1000-Meter-Zeit weit im Schatten seines ebenfalls noch gültigen deutschen 800-Meter-Rekordes (1:43,65 Minuten) steht, mit dem er erster deutscher Leichtathletik-Weltmeister wurde, bereitet es ihm geradezu diebische Freude, seine Gesprächspartner mit der Geschichte dieses wenig beachteten Rekordes zu überraschen. Beim Weltrekord von Coe lag er nach einem schwachen Start lange weit zurück, ehe er auf der Zielgeraden dem Briten bis auf fünf Meter nahe kam.

Jubelt bei den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles: Mittelstreckler Sebastian Coe.
Jubelt bei den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles: Mittelstreckler Sebastian Coe. © dpa PA | Heinz Wieseler

Dass Wülbeck überhaupt noch auf diese weitgehend unbekannte Episode seiner großen und abwechslungsreichen Karriere zu sprechen kommt, liegt vor allem daran, dass seine 1000-Meter-Zeit der älteste deutsche Laufrekord bei den Männern ist. Viele Sportfans würden spontan auf seine 800-Meter-Zeit tippen. Aber auf den olympischen Strecken gibt es noch zwei deutsche Rekorde, die älter sind: Thomas Wessinghage aus Mainz (heute 68 Jahre), der es beruflich zum hoch anerkannten Medizin-Professor gebracht hat, lief am 27. August1980 in Koblenz, wo jahrelang große Sportfeste stattfanden, die 1500 Meter in 3:31,58 Minuten.

Harald Schmid gegen Edwin Moses

Der Gelnhausener Harald Schmid (62) gewann am 8. September 1982 in Athen den EM-Titel über 400 Meter Hürden in phänomenalen 47,48 Minuten. Schmid hatte das Pech, dass zu seiner Zeit auf der Welt ein noch Größerer auf seiner Spezialstrecke unterwegs war: der US-Amerikaner Edwin Moses, der je zweimal Olympiasieger und Weltmeister über die Stadionrunde mit Hürden wurde.

Wülbeck, Wessinghage, Schmid – drei große Namen, die eine glanzvolle Ära der deutschen Leichtathletik-Geschichte prägten. Alle vereint nicht nur ihre sportliche Klasse, sondern auch ihre Einstellung, sich außerhalb der Laufbahn nicht in den Vordergrund zu drängen.

Schulstaffeln: Schlag den Willi

Auch im Rentenalter bewegt Willi Wülbeck, der seine Laufbahn 1986 beendete, heute noch buchstäblich viele Menschen, für die er Freizeitläufe organisiert. Aber auch der Nachwuchs liegt ihm am Herzen.

Bei einem vom Energiekonzern Innogy gesponserten Schulstaffelwettbewerb laufen acht Schülerinnen und Schüler jeweils 100 Meter und versuchen unter dem Motto „Schlag den Willi“ die 800-Meter-Rekordzeit des Weltmeisters zu unterbieten. In zwölf Jahren ist dies erst dreimal gelungen. Wer weiß, vielleicht versuchen sich die Schulstaffeln demnächst ja auch an Wülbecks 1000-Meter-Bestmarke.

Übrigens:


Seinem Laufsport ist Willi Wülbeck über die aktive Karriere hinaus verbunden geblieben. Von 1992 bis 2006 war der Oberhausener Vorsitzender beim ASV Duisburg, der vor 36 Jahren die beliebte Winterlaufserie an der Regattabahn in Wedau aus der Taufe gehoben hat.


In seiner Anfangszeit war Wülbeck für Rot-Weiß Oberhausen, von 1975 bis 1977 für die SG Osterfeld unterwegs, ehe er sich dem großen TV Wattenscheid anschloss.