Fußball-Wahnsinn in Herne: Westfalia führt zur Pause 1:0, kassiert in 20 Minuten vier Halterner Tore und schafft mit toller Moral den Ausgleich.
So verrückt kann Fußball sein. Nach einem Wahnsinnsspiel voller Wendungen, von beiden Seiten mit Energie und Leidenschaft geführt, trennte sich der Tabellenvorletzte Westfalia Herne vom Zweiten TuS Haltern mit 4:4. Wie dieses Ergebnis nun zu werten sei, das wussten beide Trainer nicht so recht. In einem Punkt aber waren sich alle einig. „Das war ein geiles Spiel, das war Werbung für den Oberligafußball“, sagte SCW-Trainer Christian Knappmann, nachdem sich sein Adrenalinhaushalt nach der hoch emotionalen Schlussphase wieder eingependelt hatte.
Knappmanns Gegenüber outete sich derweil als BVB-Fan. „Ich hab der Bank noch beim 1:4 gesagt: Denkt an Dortmund.“ Und Magnus Niemöller behielt mit seiner Warnung recht. So wie seine Borussen, so verspielten auch seine Halterner einen scheinbar sicheren Drei-Tore-Vorsprung. Warum, das blieb auch dem TuS-Trainer ein Rätsel. „Eigentlich können wir ja ganz gut verteidigen. Aber manchmal ist es nicht zu erklären.“ Und genau das ist es, was den Reiz des Fußballs ausmacht.
Torjäger Smykacz trifft vom Punkt
Vom Anpfiff an war es ein richtiges Derby mit hohem Tempo, schönen Dribblings und Ballstafetten, gewürzt mit deftigen Zweikämpfen, kleinen Nickligkeiten und Provokationen. Schon in der zweiten Minute kam es zur ersten brenzligen Situation im Herner Strafraum, aber zwei Halterner Schüsse wurden in höchster Not geblockt. Danach war die Westfalia im Spiel und setzte selbst offensive Akzente. Früh wurde der mutige Auftritt dann auch belohnt. Halterns Marvin Schurig ließ den Ball im eigenen Sechzehner einen Tick zu weit prallen, Bilal Abdallah spritzte gedankenschnell dazwischen, stibitzte die Kugel und wurde gleich darauf vom TuS-Verteidiger getroffen. Schiedsrichter Patrick Holz blieb keine Wahl, er zeigte auf den Punkt. Hernes Neuzugang Michael Smykacz tat, was man von einem Torjäger erwartet: Er schnappte sich den Ball und ließ Rafael Hester keine Abwehrchance.
Kurz darauf lag der Ball erneut im TuS-Netz, aber schon vor Ciccarellis Schuss war der Abseitspfiff zu hören. Wäre Ciccarelli weggeblieben, hätte Smykacz die großartige Vorarbeit von Abdallah mit dem 2:0 veredeln können. In der Folgezeit ging es rauf und runter, die Mehrzahl der guten Möglichkeiten aber boten sich bis zur Pause den Platzherren. Zweimal vergab Smykacz aus kurzer Distanz, einmal brachte Frederic Engbert den Ball nach einem Freistoß aus vier Metern nicht an Hester vorbei. Auf der Gegenseite vereitelte Maurice Haar einen Einschlag, als er einen Diericks-Schuss von der Linie schlug (38.).
Die Herner 1:0-Pausenführung bezeichnete auch Niemöller als gerechtfertigt. Was nach dem Wiederanpfiff passierte, erstaunte auch den TuS-Coach. Zwei Auswechslungen und die Umstellung auf ein 4-2-3-1-System waren für die Wende aber weniger ursächlich, als ein dicker Herner Patzer. Ausgerechnet Maurice Haar, bis dahin die Säule in der SCW-Deckung, spielte den Ball Halterns Arda Nebi in die Füße, der frei vor Seifried auf den mitgelaufenen Stefan Oerterer zum 1:1 quer legte (48.). Fünf Minuten später langte Halterns Toptorjäger erneut zu. Nach einer gut gespielten Freistoßvariante fand „Ö“ aus 16 Metern genau die Lücke im Abwehrdickicht und traf flach zum 1:2 ins Eck.
20 Minuten außer Rand und Band
Jetzt war Herner außer Rand und Band. „Da wurden wir hergespielt“, gestand Christian Knappmann ein. Das machte sich auch im Ergebnis bemerkbar. Erst vollendete der sträflich ungedeckte Oerterer per Kopf seinen Zehn-Minuten-Hattrick zum 1:3, dann schaufelte Jannis Scheuch die Kugel aus zwölf Metern unter die Latte. Herne schien geschlagen.
Doch einer hatte richtig was dagegen: Bilal Abdallah. An der Mittellinie startete der trickreiche Angreifer sein Solo, vernaschte drei Gegner und bediente Smykacz, der jedoch beim Abschlussversuch ins Straucheln geriet. Doch Abdallah war durchgelaufen, holte sich den Ball wieder und vollstreckte selbst zum 2:4. Diese Energieleistung war das Lebenszeichen, das auch die Tribüne brauchte. „Herne, Herne“, schrien viele heisere Kehlen ihre Blauen nach vorne, und die kämpften und rannten, was die Muskeln noch hergaben. Als Smykacz mit einem abgefälschten Schuss zum 3:4 verkürzte (76.), war das Feld für eine irre Schlussphase bestellt. Herne warf alles nach vorn, hätte bei Kontern noch zwei, drei Gegentreffer kassieren können – doch in der dritten Minute der Nachspielzeit wurden Mut und Moral belohnt. Nach Temmes Einwurf kam der abgewehrte Ball zu Abdallah, und der beste Herner traf mit einem Dropkick aus 16 Metern voll ins Glück.
60 Sekunden später beendete Patrick Holz mit dem Schlusspfiff das Spektakel. Danach dauerte es ein Weilchen, bis sich alle nervlich erholt hatten. Für Christian Knappmann war das 4:4 mehr als einen Punkt wert. „Ich glaube, von einem 4:4 nach diesem Spielverlauf profitieren wir mehr, als wenn wir hier 1:0 gewonnen hätten.“ Schön wär’s.
Tore: 1:0 (13.) Smykacz (Foulelfmeter, Schurig an Abdallah), 1:1, 1:2, 1:3 (48./53./57.) Oerterer, 1:4 (68.) Scheuch, 2:4 (69.) Abdallah, 3:4 (76.) Smykacz, 4:4 (90. +3) Abdallah.
SCW: Seifried - Engbert (58. Kodra), Fuchs, Haar, Temme - Anan, Hatano (64. Duyar), Schick (58. Legat) - Abdallah, Smykacz, Ciccarelli. TuS: Hester - Opiola, Forsmann, Wiesweg, Schurig (46. Schultze) - Fiericks (63. Vennemann), Pöhlker - Kallenbach (46. Albrecht) - Nebi, Oerterer, Scheuch. SR: Patrick Holz (Münster). Zuschauer: 472.