Gelsenkirchen. Der Fußball schreibt die schönsten Geschichten: Im Buch „90 Minuten Schalke“ sind emotionale Texte rund um den Malocherklub zusammengefasst.

Es gibt viele Erlebnisse, die einen Menschen prägen und sogar das ganze Leben verändern können. Hochzeit, Trennung, Erfolge im Beruf, Tod einer geliebten Person – die Liste ließe sich beliebig weiter fortsetzen. Doch das Ereignis, das am 2. Mai 1984 das Leben des Tobias Buchebner verändern sollte, hat schon einen außergewöhnlicheren Charakter. Es handelt sich nämlich um ein Fußballspiel.

Tobias Buchebner besucht an diesem Tag mit seinem Vater DFB-Pokal-Halbfinale zwischen dem damaligen Zweitligisten Schalke 04 und dem großen FC Bayern München. Endlich kann der junge Fußballfan seinen Lieblingsklub mal live sehen. Die Schalker um den erst einen Tag vorher 18 Jahre alt gewordenen Olaf Thon machen das Spiel ihres Lebens, im Parkstadion brechen nach dem 6:6-Ausgleich von Thon in der 120. Minute alle Dämme. Tobias Buchebner verfolgt die unfassbaren Szenen „völlig gebannt, geschockt und entzückt“, wie er später erzählt, auf seinem Tribünenplatz. Es dauert aber nicht lange, bis er die Fassung zurückgewinnt. Intuitiv reißt er sich Bayern-Schal und -Mütze vom Leib und schenkt sie einem völlig verdutzten Jungen. Sein Vater, übrigens leidenschaftlicher Schalke-Fan und bislang erfolgloser Kämpfer für die „Konvertierung“ seines Sohnes vom FCB zum S04, nutzt die Gunst der Stunde und stattet ihn am nächstgelegenen mobilen Fanshop mit einem blau-weißen Outfit aus.

Startschuss für neuen Abschnitt

„Das war der Startschuss für einen neuen Lebensabschnitt.“, betont Tobias Buchebner nun, als er die Geschichte, wie er in 120 Minuten vom Bayern- zum Schalke-Fan wurde, 35 Jahre später noch einmal erzählt. „Ich begriff schlagartig, wieso sich mein Vater immer wieder für seinen Fußballverein ‚gerade gemacht‘ hatte und niemand daran rütteln konnte“, sagt, oder besser liest, der regelmäßige Stadionbesucher weiter. Die Geschichte ist nämlich Teil des kürzlich vom Fan-Magazin „Schalke Unser“ herausgegeben Buches „90 Minuten Schalke“, in dem Anhänger der Königsblauen ihre besonderen Erlebnisse mit dem Klub schildern. Genau wie Moderator und Hauptautor Roman Kolbe sowie fünf weitere Fans hat sich Tobias Buchebner an diesem Novemberabend dazu bereit erklärt, seinen magischen Moment bei einer Lesung in der Buchhandlung Junius zum Besten zu geben.

Naldo köpft im November 2017 nach 0:4-Rückstand das 4:4 für Schalke in Dortmund. Ein Spiel, das in die Geschichte einging. Allerdings erlebten nicht alle die furiose S04-Aufholjagd im Stadion...
Naldo köpft im November 2017 nach 0:4-Rückstand das 4:4 für Schalke in Dortmund. Ein Spiel, das in die Geschichte einging. Allerdings erlebten nicht alle die furiose S04-Aufholjagd im Stadion... © firo Sportphoto | firo Sportphoto/ Jürgen Fromme

Es ist ein knapp 90-minütiger Rückblick auf die ruhm-, aber manchmal auch tränenreiche Geschichte der Schalker. Vom Tritt in den Hintern, den ein frustrierter Schalke-Fan am 25. März 1989 in der 86. Minute des Spiels gegen Darmstadt 98 Schiedsrichter Michael Prengel verpasst, geht es über den 4:4-Derbywahnsinn 2017, den der bereits in der 61. Minute fluchend nach Hause gefahrene Peter Sauerland in der Straßenbahn statt im Stadion erlebt, bis hin zu den Feierlichkeiten über den überraschenden Klassenerhalt 1966. „Wenn ich jetzt davon erzähle, bekomme ich wieder Gänsehaut. Man kann sich diese Stimmung gar nicht vorstellen. Solche Emotionen lassen sich nicht schriftlich beschreiben“, bekräftigt Michael Zylka, Autor der letzteren Geschichte und einstiger Schalker Drei-Tage-Präsident.

Still wird es jedoch, als Andreas Pyrchalla das erste Champions-League-Spiel der Schalker am 11. September 2001 gegen Panathinaikos Athen schildert. Wenige Stunden nach dem Terroranschlag auf das New Yorker World-Trade-Center dominieren Schock und Stille die Atmosphäre. Dass die Königsblauen mit 0:2 verlieren, ist nur eine Randnotiz.

Mit einem bewegenden Ende lässt auch Tobias Buchebner seine Zuhörer zurück. Der 2. Mai sollte ihm nicht nur wegen des Farbwechsels von rot-weiß zu blau-weiß in Erinnerung bleiben. Auf den Tag genau 31 Jahre später wurde sein Vater beerdigt. „Als ich diesen Zusammenhang kurz vor dem Gottesdienst bemerkte, bekam ich eine Gänsehaut. Mir schoss sofort in den Sinn, wie sehr sich mein Vater über meine damalige ‚Konvertierung‘ gefreut hat und wie wichtig ihm das war“, schreibt Buchebner. „Es brannte sich mir ein, was wir damals für einen unbeschwerten und schönen Tag hatten. Ich hätte mir gewünscht, dass wir das über all‘ die Jahre beibehalten hätten, was uns jedoch leider nicht immer gelang. Schalke verband uns aber zuverlässig, da passte kein Blatt zwischen.“