Gelsenkirchen. . Zeitzeuge Rolf Nölle erinnert sich an Schalker Triumphe. Wie Ernst Kuzorra den Doktor im Hotel einsperrte und „Ala“ Urban unter die Dusche stellte.

Rolf Nölle sieht ihn noch vor sich stehen, den großen Ernst Kuzorra. Wie er bei seinem Abschiedsspiel auf dem Rasen der Glückauf-Kampfbahn steht, die Arme weit ausbreitet und den Zuschauern zeigt: „Es geht nicht mehr.” Arm in Arm mit seinem Schwager Fritz Szepan ging er vom Feld – in seinem letzten Spiel für Schalke gegen den damaligen brasilianischen Meister Belo Horizonte. Es war am 12. November 1950. Rolf Nölle war damals 15 Jahre alt.

Auch interessant

Mit Erzählungen wie diesen wollen wir in unserer Sommer-Serie an 111 Schalker Jahre erinnern – ein Jubiläum, das der Verein im September groß feiert. Wir sprechen mit früheren Spielern, die selbst dabei waren – und mit Zeitzeugen wie dem heute 80 Jahre alten Rolf Nölle, der als kleiner Junge noch das Ende der ersten großen Schalker Ära in den Dreißigern und Vierzigern erleben durfte. Vieles hat er mit eigenen Augen gesehen, anderes weiß er aus Erzählungen: Für die WAZ kramt Rolf Nölle in seinen Erinnerungen.

Private Bekanntschaft mit dem großen Ernst Kuzorra

Mit Ernst Kuzorra also war Rolf Nölle fast bis zu dessen Tod am Neujahrstag 1992 verbunden. Lange, nachdem der große Ernst die Stiefel im Alter von 45 Jahren endgültig an den Nagel gehängt hatte, entwickelte sich auch eine private Bekanntschaft. Rolf Nölle weiß noch genau, wie Kuzorra ihm beschied: „Hömma, du kannst Clemens zu mir sagen.” Ein Angebot wie ein Ritterschlag. Clemens war in der Mannschaft der Rufname von Kuzorra — angeblich wurde er so genannt, um ihn von seinen Mitspielern Ernst Pörtgen und Ernst Kalwitzki unterscheiden zu können.

Auch interessant

Ernst Kuzorra spielte schon mit 16 Jahren für Schalkes erste Mannschaft; er stand mit den Königsblauen in neun Endspielen um die deutsche Meisterschaft und gewann davon sechs. Unvergessen die Geschichte aus dem Jahr 1934, als er im Endspiel gegen den 1. FC Nürnberg mit einem Leistenbruch spielte und Schalke kurz vor Schluss mit seinem Tor zur ersten Deutschen Meisterschaft schoss. Nölle erinnert sich, wie ihm Kuzorra später einmal launig erzählte: „Der Arzt wollte mich nicht spielen lassen. Deswegen haben wir ihn einfach im Hotelzimmer eingeschlossen, bevor wir ins Stadion gefahren sind.“

Wir – das waren Kuzorra und Fritz Szepan, der in allen Finalspielen an seiner Seite stand. Beide prägten auf dem Platz diese Epoche vom Schalker Kreisel, doch für Rolf Nölle steht fest: „Ernst Kuzorra war der FC Schalke, nicht der Fritz.”

Nationalelf? Schalke war wichtiger

Dies schon allein, weil Ernst Kuzorra mit seiner Art so für das große Ganze stand. Rolf Nölle erzählt dazu eine Geschichte, die kaum bekannt ist. Sie dreht sich um „Ala” Urban, den legendären Linksaußen, den Nationaltrainer Otto Nerz bei einem Schalker Spiel für die Nationalmannschaft beobachten wollte. Dummerweise hatte sich Urban am Abend vorher kräftig einen genommen, was Kuzorra am Morgen sofort aufgefallen sei. Kuzorra habe Urban dann höchstpersönlich unter die Dusche gestellt und mit kalt-warmen Wechselbädern fit gemacht – so fit, dass Urban nach dem Spiel direkt zur Nationalmannschaft eingeladen worden sei.

Auch interessant

Kuzorra selbst bestritt nur zwölf Länderspiele. Einmal, erzählt Rolf Nölle, habe ihm Kuzorra berichtet, warum das mit der Nationalelf nie so richtig geklappt habe. Nölle: „Die Nationalmannschaft hatte sich an einem Dienstag in Wedau getroffen, Fritz Szepan ist hingefahren, der Ernst nicht. Denn Schalke hatte am Mittwoch noch ein Spiel in Neheim. Als der Ernst danach dann zur Nationalmannschaft gefahren ist, hat ihn Trainer Nerz gefragt: Warum kommen Sie erst jetzt? Und Ernst hat geantwortet: Ich musste noch mit meiner Mannschaft spielen.” Nerz habe ihm dann zur Strafe Laufrunden verordnet, worauf Kuzorra entgegnet habe: „Ja, ich laufe – aber nach Hause.” Schalke sei für Kuzorra immer das Wichtigste gewesen. Nölle: „Vielleicht war der Fritz technisch ein bisschen besser, aber der Ernst war der bessere Kumpel. Er war ein Kämpfer und ein Techniker – ein Vorbild für alle.”

Ohne Kuzorra ging in den 30er- und 40er-Jahren nichts. Obwohl Schalke natürlich auch immer einen Trainer hatte, machte der „Clemens” Aufstellung und Taktik. Und er legte großen Wert darauf, dass Schalke seine Spieler aus der Jugend und aus der Umgebung in die erste Mannschaft führte. Sein Credo: „Wer für Schalke spielen will, muss mit der Straßenbahn nach Hause fahren können.”

Der Kreisel kam von der Insel

Ihren unvergleichlichen Spielstil, diesen legendären Schalker Kreisel, hatten die Königsblauen freilich von der britischen Insel importiert. Mitgebracht hatten ihn nach dem Ende des 1. Weltkrieges die Gebrüder Ballmann, die nach ihrer Kriegsgefangenschaft in England den Fußball studierten und nach ihrer Rückkehr auf Schalke Dinge vorführten, die man hier noch gar nicht kannte. „Hans und Fred Ballmann haben den Kreisel eingeführt”, weiß Rolf Nölle: „Jeder durfte den Ball nur ein- oder zweimal berühren und musste ihn dann gleich weiterspielen. Ernst Kuzorra wurde richtig böse, wenn mal gefummelt wurde. Er hat immer gesagt: Der Ball muss laufen – der hat die beste Kondition.”

Weil das keiner so gut verstand wie die Schalker, wurden bei „Mutter Thiemeyer”, dem Vereinslokal am Schalker Markt, Jahr für Jahr die Titel gefeiert. Der Höhepunkt dieser Epoche war das Jahr 1939, als Schalke im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft gegen Admira Wien mit 9:0 gewann und die Gegenspieler minutenlang nicht an den Ball gekommen sein sollen. Nölle kann sich daran natürlich nicht erinnern, er war damals erst vier Jahre alt. Wohl aber weiß er aus Erzählungen seiner Mutter Margerite, wie Gelsenkirchen stets kopf stand, wenn das Team von seinen Triumphen zurückkehrte. Für Rolf Nölle war die Meisterschaft 1942 die erste, „die ich als Kind bewusst erlebt habe.” Schalke gewann gegen Vienna Wien mit 2:0 – es war die sechste Deutsche Meisterschaft für Schalke und die letzte für die Generation mit Kuzorra und Szepan.

2. Weltkrieg riss auf Schalke bittere Lücken

Denn die beiden Großen waren in die Jahre gekommen und der 2. Weltkrieg riss auch auf Schalke bittere Lücken: Drei Spieler verloren im Krieg ihr Leben – so auch „Ala” Urban. Die große Epoche war vorbei: 1947 hieß der Westfalen-Meister zum ersten Mal nach 20 Jahren nicht Schalke 04 – im Endspiel gab es ein 2:3 gegen Borussia Dortmund, das in all den Jahren zuvor noch kein ernsthafter Rivale war. Und 1949 hätte Schalke in der neuen Oberliga West eigentlich sogar absteigen müssen, doch stattdessen wurde die Gruppe einfach aufgestockt: Eine Liga ohne Schalke hatte man sich schon damals nicht vorstellen können...