Extrem-Radsportler Holger Röthig fährt ab Sonntag das Langstreckenrennen „London – Edinburgh – London”.

1400 Kilometer will Holger Röthig in knapp 70 Stunden zurücklegen. Foto: privat
1400 Kilometer will Holger Röthig in knapp 70 Stunden zurücklegen. Foto: privat © WAZ

Wer die Strecke London – Edinburgh – London mit dem Düsenjet zurücklegt, der benötigt für Hin- und Rückflug samt Wartezeiten beim Einchecken rund sechs Stunden. Holger Röthig wird zwölfmal so lange unterwegs sein, rund 72 Stunden. Das liegt daran, dass der Essener die addiert 1400 Kilometer nicht über den Wolken, sondern auf Britanniens hartem Asphalt zu bewältigen hat. Auf einem Rennrad. Die ganze Strecke an einem Stück.

„Wer tut sich freiwillig eine solche Strapaze an?”, mag der geneigte Hobby-Zweiradfahrer denken. Die Antwort ist verblüffend. An diesem Sonntag werden rund 500 Extrem-Sportler in die Pedale treten, um von Englands Hauptstadt aus in Richtung Norden aufzubrechen. Alle vier Jahre findet diese Prüfung statt. Und genau wie alle Rennen von solchen Ausmaßen ist „London – Edingburgh – London” für die meisten Teilnehmer ein Höllenritt auf hartem Sattel.

Für Holger Röthig hat dieses Rennen hingegen nur den Stellenwert einer anspruchsvollen Trainingseinheit. Der 39-Jährige begegnet Distanzen wie dieser zwar nach wie vor mit dem angemessenen Respekt. Tief im Inneren weiß er aber längst, dass all das nur die Vorbereitung auf das Allergrößte ist: das Race Across America. Dann gilt es, in zwölf Tagen 4800 Kilometer quer durch die USA zu meistern. „Diese Strapaze werde ich mir 2010 selbst zu meinem 40. Geburtstag schenken”, sagt Röthig.

Es begann alles mit den Foppereien seiner Kollegen. Die attestieren ihrem Mitfahrer, der sich während der Fußball-WM 2006 eine trainingsfreie Zeit auf dem Rad gegönnt hatte, dass er ziemlich schlapp geworden sei. „Zu diesen Späßen kam bei mir selbst das Gefühl, dass ich noch etwas ganz Anderes in meinem Leben machen wollte”, erzählt Röthig. Das war die Motivation, um zu trainieren. Von Woche zu Wocher härter. Im Februar 2007 fühlte er sich tatsächlich fit für den ersten Langstreckentest. Der hieß Paris – Brest – Paris. Für diese 1200 km benötigte er zwar 85 Stunden. Aber Röthig kam ins Ziel. Von diesem Moment an hatte er Blut geleckt.

„Wenn das Unbekannte weg ist und du weißt, dass du diese Distanz schaffen kannst, wird die Sache im Kopf leichter”, sagt der Inhaber einer Veranstaltungs-Agentur. Die Selbstständigkeit erlaubt es Röthig, sich die nötige Zeit im Arbeitsalltag für das Training und die Wettkämpfe freizuschaufeln.

Letztere gestalten sich nicht nur wegen der kraftraubenden Strapazen als Härteprüfung. Weitere Hürden warten: etwa eine geregelte Versorgung mit Essen und Trinken. Pro Stunde müssen die Radler 600 bis 700 Milliliter Flüssigkeit zu sich nehmen. Mindestens! Zum den Drinks kommt die Flüssignahrung. Das ist ein verrührtes Pulver, das den Körper in ausreichendem Maße mit Kalorien und Kohlenhydraten versorgt. „Mit Hunger zu fahren, kann ganz schnell unangenehm werden”, warnt Röthig. Soll heißen: Wer sich nicht gut versorgt, dem droht das Zwangs-Aus.

Zweites Hindernis: wenig Schlaf. Die Extrem-Radler fahren immer so lang die Beine noch strampeln. „Irgendwann fallen aber die Augen zu. Dann ist es allerhöchste Zeit für eine Pause”, erklärt das Ausdauer-Ass. Als Ruhelager für die nächsten ein, zwei Stunden dient oft eine Wiese am Straßenrand. „Ich habe schon bei Regen mit Helm auf geschlafen, so müde war ich da.”

Dritte Schwierigkeit: es gibt keinen abgesteckten Streckenverlauf. Die Teilnehmer sind auf normalen Straßen unterwegs. Der Weg zum nächsten Kontrollpunkt, die alle 70 bis 130 km angesteuert werden müssen, ist per Kartenmaterial im „Road Book” zu finden. Wer sich verfährt, verliert Zeit. Und Sieger ist der, der am wenigsten davon benötigt.

Trotz aller sportlicher Herausforderungen bleibt sogar noch Zeit, um Land und Leute ein wenig kennen zu lernen. Nach zwei Rennen quer durch Bulgarien kann sich Röthig in der Landessprache zumindest grob verständigen. Beim Wettkampf in Kanada lernte er Konkurrent Ian kennen, heute einer seiner besten Freunde.

Die meisten Kilometer verbringt ein Extrem-Radler aber allein. Allein mit sich, dem Rennrad und der Straße. „Man stößt da auch psychologisch in Grenzbereiche vor”, sagt Röthig. Dennoch fand er bislang immer die Kraft, um durchzuhalten – selbst, als kürzlich elf Reifenpannen in einem Rennen an den Nerven zehrten. Aufgeben gibt's bei ihm nicht. Und das soll auch auf der britischen Insel so bleiben.