In Deutschland gilt der Essener als Pionier des Rückwärtslaufens. Er lief Marathons in die falsche Richtung und hält noch immer einen Weltrekord.

Wenn Achim Aretz losläuft, kann ihm kaum jemand folgen. Bis heute hält der Essener den Weltrekord im Halbmarathon, jahrelang gehörte ihm auch die Bestmarke im Marathon. Wer dem 34-Jährigen beim Trainieren allerdings über den Weg läuft, der dürfte sich verwundert umdrehen. Denn Achim Aretz läuft rückwärts.

Rückwärts, ganz genau. Und zwar in einem Tempo, in dem es viele nicht mal vorwärts schaffen würden. Für seinen Weltrekord im Halbmarathon – also über 21 Kilometer mit dem Rücken zum Ziel – benötigte Aretz lediglich 1:36:30 Stunden.

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Doch wie kommt ein passionierter Läufer plötzlich auf die Idee, sich andersrum zu orientieren? Der Grund dafür ist eine Schnapsidee – im wahrsten Sinne des Wortes.

Eine durchzechte Nacht als Auslöser für die Idee des Rückwärtslaufens

Ein Kommilitone holt Aretz im Oktober 2006 am Morgen nach einer durchzechten Partynacht aus seiner Studentenwohnung in Münster ab. Gemeinsam wollen sie laufen gehen. Verkatert kann Aretz seinem Kollegen jedoch nicht folgen. Gelangweilt von dessen langsamen Tempo läuft er deshalb rückwärts neben Aretz her. „Er hat gemeint, dass das Spaß macht. Also habe ich es auch mal probiert“, erzählt Aretz. Zunächst eher kurze Strecken, doch die Distanzen werden schnell länger. Gemeinsam mit Freunden entdeckt Aretz im sozialen Netzwerk „Studivz“, dass es international tatsächlich eine richtige „Retrorunning“-Szene – so nennen sich die Rückwärtsläufer selbst – gibt. Zu viert fahren sie schließlich im Sommer 2008 zur Weltmeisterschaft nach Italien. Die Italiener gelten als die Pioniere im Rückwärtslaufen, auch wenn die meisten Rekorde inzwischen in deutscher Hand sind.

Bei einem öffentlichen Wettkampf geht es schon mal eng auf der Strecke zu – den Überblick zu behalten ist da besonders wichtig.
Bei einem öffentlichen Wettkampf geht es schon mal eng auf der Strecke zu – den Überblick zu behalten ist da besonders wichtig. © Michael Holtkötter

Spätestens jetzt ist der Ehrgeiz von Aretz geweckt. „Die intensivste Phase war so um 2010 herum“, erinnert er sich. Er trainiert viel, läuft phasenweise bis zu 80 Kilometer pro Woche rückwärts und setzt sich immer neue Ziele. Das Training zahlt sich aus: Im Oktober 2010 bricht Aretz in Frankfurt am Main den sechs Jahre alten Marathon-Weltrekord des Chinesen Xu Zhenjun. 3:42:41 Stunden braucht er für die gut 42 Kilometer. Die Bestmarke hält immerhin bis April 2017. Sein Weltrekord auf der Halbdistanz gilt inzwischen seit Mai 2011. Zwei Wochen später läuft Aretz die zehn Kilometer beinahe in weniger als 40 Minuten, kommt bei 40:02 Minuten ins Ziel. Ebenfalls Weltrekord.

Das Schwärmen für das Rückwärtslaufen hat für ihn aber auch ganz simple Gründe. „Es werden ganz andere Muskelgruppen trainiert als beim Vorwärtslaufen“, erklärt der studierte Geologe. Denn Rückwärtsläufer treten mit dem Vorderfuß auf, das typische Abrollen über die Ferse bleibt aus. Anfänger haben zu Beginn mit extremem Muskelkater zu kämpfen. Für Menschen mit Knieproblemen ist das Rückwärtslaufen aber eine sinnvolle Alternative, denn die Knie werden dabei entlastet. Über die Unterschiede der körperlichen Belastung beim Vorwärts- und Rückwärtslaufen gibt es inzwischen sogar wissenschaftliche Untersuchungen.

In China hat das Rückwärtslaufen eine 1000 Jahre alte Tradition

„Das Rückwärtslaufen hat einen gesundheitlichen und für mich auch meditativen Charakter“, sagt Achim Aretz. Sich rückwärts fortzubewegen, hat in China eine 1000 Jahre alte Tradition. Es gilt als gesund, den Körper ab und an aus den alltäglichen Bewegungsabläufen zu reißen und aus den eigenen Gewohnheiten auszubrechen. So werden nicht nur andere Muskelgruppen, sondern auch Sinne wie das Gehör gestärkt. „Ich nehme die Umgebung anders wahr, wenn ich rückwärts laufe“, erklärt Aretz. Er sehe nicht das, was vor ihm liegt. Sondern das, was er bereits geschafft hat.

Erst zwei Jahre ist es her, dass die gesamte Retrorunning-Weltelite in Essen zu Gast war. Gemeinsam mit einigen Freunden organisiert Aretz die Weltmeisterschaft am Hallo. Mehr als 170 Athleten aus 25 Ländern kommen, um vier Tage über alle möglichen Distanzen die schnellsten zu ermitteln. Sogar ein Halbmarathon findet auf Zeche Zollverein statt. Aretz nutzt seinen Heimvorteil aus und wird in 1:39:17 Stunde noch einmal Weltmeister. „Das hat riesig Spaß gemacht. Wir hatten eine sehr schöne Stimmung und schnelle Zeiten“, erinnert sich Aretz gerne zurück. Inzwischen ist der ganz große Ehrgeiz nicht mehr vorhanden, Aretz hat genug Medaillen gewonnen. Bei Wettkämpfen gehe es vor allem darum, alte Bekannte wiederzusehen. Zum Beispiel in zwei Wochen, wenn im italienischen Bologna die nächste Weltmeisterschaft beginnt. Achim Aretz ist natürlich dabei.

Rückwärtslaufen stärkt Kopf und Geist

Rückwärtslaufen selber ausprobieren – das kann zunächst erst einmal jeder. „Allerdings“, so der Weltrekord-Halter Achim Aretz, „sollte ganz langsam und kurz angefangen werden.“ Am besten auf einem ebenen Untergrund, wie zum Beispiel einer Tartanbahn. Denn wer rückwärts läuft, muss sich erst einmal daran gewöhnen, sich ins Ungewisse zu begeben. Holpriges Gelände wie zum Beispiel im Wald ist da zunächst nicht der beste Trainingsort. Wer will schon gleich über eine Wurzel stolpern und unsanft zu Boden gehen? Die Strecke nicht zu sehen, ist nun mal auch für den Kopf eine ungewohnte Situation. „Die Angst vor Stürzen wird eigentlich schnell abgebaut“, sagt Aretz, der überhaupt nur ein einziges Mal rückwärts fiel. Ausgerechnet auf einer Tartanbahn, weil mitten auf der Strecke plötzlich eine Klappbank stand. „Ist aber glimpflich ausgegangen“, lacht Aretz. Selbst bei großen Volksläufen, wo er quasi gegen den Strom läuft, ist nie etwas passiert. Am schwierigsten sei es eigentlich, wenn einem Tiere entgegenkommen.

Beim Rückwärtslaufen trainiert Achim Aretz nicht nur seinen Kopf, sondern auch andere Muskelgruppen.
Beim Rückwärtslaufen trainiert Achim Aretz nicht nur seinen Kopf, sondern auch andere Muskelgruppen. © Cosima Eisenhuth

Das Trainieren mit einem Partner kann sich aber gerade beim Rückwärtslaufen für Anfänger als sehr nützlich erweisen. Denn der Partner kann Anweisungen geben und die Richtung vorgeben. So muss der Rückwärtsläufer auch nicht ständig seinen Kopf nach vorne drehen – was am Tag danach schon mal für einen mächtigen Muskelkater im Nacken sorgen kann. Zudem wird der Geist trainiert. Denn wenn der eine vorwärts und der andere rückwärts läuft, ist „rechts“ dann plötzlich eigentlich „links“ und umgekehrt.

Aber wie reagieren eigentlich die Mitmenschen, wenn ihnen plötzlich jemand rückwärtslaufend entgegenkommt? „Eigentlich sind meine Erfahrungen sehr positiv“, erzählt Achim Aretz. „Natürlich fällt schon mal ein dummer Spruch wie ‘Andersrum!’ oder die Leute schütteln mit dem Kopf.“ Viele zeigen sich aber auch sehr interessiert, laufen mit und fragen nach, warum er das macht. „Teilweise hat man den Kontakt danach sogar noch gehalten. Das wäre wohl nicht passiert, wenn ich ganz normal vorwärts gelaufen wäre“, sagt Aretz. Rückwärtslaufen ist also auch gesellig.

>>DAS IST ACHIM ARETZ: LEHRER UND BUCHAUTOR

Achim Aretz wird am 13. März 1984 in Essen geboren. Er studiert zunächst in Münster Geowissenschaften, ehe er in Darmstadt an der Technischen Universität promoviert.

Inzwischen lebt und arbeitet Aretz als Lehrer im belgischen Sankt Vith. Dort wird Deutsch gesprochen.

Über das Rückwärtslaufen hat Aretz das Buch „Faszination Marathon andersherum“ geschrieben. Weitere Infos dazu gibt es auf seiner Homepage: www.achim-aretz.de