Bottrop. Marina Kolassa ist über 20 Mal die Marathondistanz gelaufen. Dabei spricht sie von einer „Hassliebe“. Ihr jüngstes Projekt: Die Hermannshöhen
„Es ist eine Hassliebe“, sagt Marina Kolassa (29) aus Bottrop. Das, wofür sie solch starke Gefühle - in die eine und in die andere Richtung - empfindet, ist das Laufen. So geht es wohl vielen Hobbyläufern in Deutschland. Ganz egal, ob sie mit diesen Worten den Sieben-Kilometer-Lauf nach Feierabend, den 10-Kilometer-Lauf am Wochenende oder den Halbmarathon als Jahreshighlight beschreiben würden. Doch Kolassa ist anders, sie ist extremer.
Denn für sie sind zehn Kilometer rein gar nichts, auch zwanzig Kilometer läuft sie mit links und einen Marathon hat sie bereits 22 Mal erfolgreich absolviert. Kolassa sucht das Außergewöhnliche, für sie geht es immer höher – oder in diesem Fall – weiter hinaus. 320 Kilometer weit.
„Ich habe das Laufen gehasst“
Zum Laufen gekommen ist Kolassa über das Thaiboxen. „Wenn man dort Wettkämpfe bestreitet muss man auch viel Konditions- und Wettkampftraining machen. Man geht morgens in einem Schwitzanzug laufen und hat abends Training“, sagt Kolassa und erinnert sich zurück: „Ich hatte nie eine Uhr, keine Ahnung wie viele Kilometer ich da gelaufen bin. Vermutlich war ich total schlecht und habe sehr überpaced. Eine Leidenschaft konnte man es früher nicht nennen, ich habe das Laufen gehasst, wie wohl die meisten.“
Doch wer etwas erreichen will, muss auch leiden, muss sich selbst motivieren, immer und immer wieder Hürden überwinden. Und manchmal hilft dabei auch eine ausgeprägte Charaktereigenschaft, wie im Falle Kolassas.
„Ich bin sehr stur“, sagt sie und lacht. Sie nahm sich vor, einmal in ihrem Leben einen Marathon zu laufen, im Oktober 2016 war dieses Ziel von der Liste abgehakt. Ihr fehlte das Laufen nicht, sie hatte es sich selbst bewiesen und war damit zufrieden.
Den kompletten Rheinsteig entlang
Doch dann erzählte ihr ein Freund, dass er einen Sechs-Stunden-Lauf absolviert habe. „Er sagte, ich kann das ja auch mal machen aber würde es jetzt noch nicht schaffen“, so Kolassa. Es waren genau diese Worte, die sie kitzelten, die sie nicht mehr losließen. Kurze Zeit später war es soweit, nach intensivem Training „habe ich einen Sechs-Stunden-Lauf rausgehauen und bin so quasi auf die dunkle Seite der Macht gekommen.“
Damit spricht sie nicht von einem Star-Wars-Marathon, sie meint das Besondere, den Extremsport, der sie gepackt hatte. Mittlerweile hat sie 22 Marathons und 63 Ultramarathons hinter sich gebracht, 2019 ist sie den Wibolt, den längsten Nonstoplauf Deutschlands gelaufen, 320 Kilometer weit, den kompletten Rheinsteig entlang.
„Das war definitiv mein Highlight. Ich hatte durch einen Freund davon erfahren und weiß auch gar nicht mehr, was mich da geritten hat. Man meldet sich ein Jahr vorher für an und verdrängt es. Dann habe ich das einfach gemacht, voll ins kalte Wasser“, sagt Kolassa.
Coronavirus verhinderte den eigentlichen Plan
Sie schwamm sich frei, lief und lief – bis ins Ziel. „Es war ein krasses Abenteuer, solche Distanzen sind unvorstellbar. Das ist noch einmal ein anderes Gefühl, man ist ja Tag und Nacht draußen.“
Das Highlight war geschafft, die längste Strecke bezwungen. Doch Kolassa wäre nicht sie selbst, hätte nicht längst das nächste Ziel auf ihrem Weg gelegen: die Hermannshöhen, einen 226 Kilometer langen Wanderweg. Wieder war es ein Freund, der dabei mithalf, die Idee in ihrem Kopf zur Realität werden zu lassen.
„Er ist Niederländer und hat eine Karte mitgebracht“, erinnert sie sich. Eigentlich wäre entlang des Herrmannsweg ein organisierter Lauf gewesen, der durch das Coronavirus aber abgesagt wurde. „Da haben wir uns gesagt, wir machen es auf eigene Faust. Allerdings konnte er nicht mitmachen, denn die Grenzen sind ja zu. Ich habe mir dann seinen Segen geholt und bin es mit einem anderen Freund angegangen“, so Kolassa,die ihrem Sport auch nachgeht, um andere Personen zu motivieren.
„Selbst ich kann über meine Grenzen hinauswachsen und ich mache das Extreme. Für andere kann es ein Zehn-Kilometer-Lauf sein“, sagt die Bottroperin, die 2020 eigentlich vorhatte die Tortour de Ruhr (230 Kilometer) und den Jurasteig in Bayern (239 Kilometer) zu laufen, Distanzen die sie selbst als „Superlativ von verrückt“ bezeichnet.
Laufsandalen statt Laufschuhe
Am 1. Mai starteten Kolassa und ihr Freund Ole um 8 Uhr in Rheine, ausgerüstet mit zwei Stirnlampen, falls eine ausgehen sollte, Ersatzbatterien, einem GPS-Tracker, einem Navigationsgerät und Ersatzklamotten, damit nichts wund gelaufen wird und ganz speziellen Laufschuhen: Sandalen. „Meine Füße schwellen nach so langen Distanzen an und in Schuhen drückt dann alles und man verliert Zehnägel. In den Laufsandalen habe ich ein freies Gefühl, weniger Blasen und kann die Füße in Pfützen abkühlen“, erklärt die Läuferin.
Gemeinsam mit Ole und einer weiteren Person, die alle zehn Kilometer eine Art mobilen Verpflegungspunkt organisiert hat, ließ Kolassa Kilometer für Kilometer hinter sich. Am zweiten Tag regnete es in Strömen, die Klamotten mussten mehrmals gewechselt werden, selbst die Regenhose werden war komplett durchnässt. Für Kolassa kein Grund, aufzugeben.
Pausen wurden gemacht, mal ein Kaffee getrunken, schlafen stand allerdings nicht auf dem Programm. „Wir sind komplett durchgelaufen. Da war es auch besser, dass Ole dabei war. Für den Kopf und für die Nacht, denn nachts um 3 Uhr im Wald ist es schon schön, wenn noch jemand dabei ist“, so Kolassa, die 34 Stunden und 55 Minuten nach dem Start, 320 Kilometer später, das Ziel in Marsberg erreichte.
Mentale Kraft ist ausschlaggebend
Der ehemalige deutsche Fußball-Nationalspieler Per Mertesacker hätte sich wohl schnell für einige Zeit in die Eistonne verzogen. Kolassa hingegen ruhte sich nur kurz auf einem Campingstuhl aus, ehe es heim ging, um am nächsten Tag die nächsten Kilometer hinter sich zu bringen.
„Ich musste am Sonntag natürlich auch laufen gehen“, sagt Kolassa, die Streakrunnerin ist, also jeden Tag laufen geht. Muskelkater in den Beinen habe sie kaum verspürt, trotz dieser extremen Distanz.
„Man merkt immer ein bisschen etwas aber wenn man trainiert ist, hat man auch weniger Muskelkater. Wir sind ja in einem entspannten Tempo gelaufen. Ich hatte eher Muskelkater an den Schultern vom Rucksack“, sagt sie, die den Schlüssel zum Erfolg mehr im Kopf als im Körper sieht.
„Man sagt beim Laufen ja, 90 Prozent seien mental und den Rest macht der Kopf. Man weiß zum Beispiel bei einem Ultramarathon, dass es einem irgendwann schlecht geht. das sind normale Phasen, die muss man einplanen. Das Aufgeben ist immer präsent und nah dran. Man versucht es zu umgehen. Ich bin ein sturer Mensch, für mich gibt es selten die Option aufzugeben.“
“Ich bin dadurch frei, ich bin dadurch ruhig“
Das Abbrechen war auch Anfang Mai keine Alternative. Kolassa: „Manchmal weiß man nicht, warum man es tut. Aber natürlich liebe ich es auch. Es gibt verschiedene Gründe zum Laufen. Meine Motivation ist intrinsisch, ich bin dadurch frei, ich bin dadurch ruhig. Ich werde den Laufsport nicht heiraten aber eine eingetragene Partnerschaft wäre möglich.“
So kräftezehrend der Extremsport für Kolassa auch ist, so wichtig ist er für die Bottroperin selbst. So, wie es in einer Hassliebe nun einmal ist.