Bottrop/Oberhausen. Wrestling, das ist eine sportliche Seifenoper. Dominic Boers steht als Catcher „Carnage“ im Ring. Ein Bösewicht ist er, aber einer mit netten Zügen.

Es gab Zeiten, da hat Dominic Boers bitterlich geweint. Mit Tränen in den Augen beobachtete er als kleiner Junge vor dem Fernseher, wie sein Idol „Razor Ramon“ eine Schlacht im Ring verlor. Der kleine Dominic zuckte und hielt sich die Augen zu, wenn der Mann mit den gegelten Haaren mit Tritten malträtiert und mit Ohrfeigen gedemütigt wurde, bevor der Gegner ihn schließlich unter seinen Muskelbergen begrub. Der Ringrichter schlug mit der Hand auf den Boden. Eins, zwei, drei – Ende. Der kleine Dominic war niedergeschlagen und enttäuscht. Er wusste damals noch nicht: alles nur Show.

Heute weint Boers nicht mehr, er ist nicht mehr der kleine Dominic. Er ist jetzt selbst Teil der Show. Woche für Woche prügelt er sein Gegenüber windelweich und begräbt es dann unter sich. Später feiert er mit dem Gegner das gelungene Match. Alles nur Show. Boers hat seinem Idol nachgeeifert. Er ist ein professioneller Catcher in der Liga Westside Xtreme Wrestling. Catchen, sagt Boers, sei wie Paartanzen. „Wenn zwei gute Partner zusammenfinden, kann sich ein episches Match entwickeln.“

Es ist dunkel in der Oberhausener Turbinenhalle, nur der Ring ist spärlich beleuchtet. Aus den Boxen dröhnen laute Gitarrenakkorde und eine massige Gestalt schält sich aus dem Kunstnebel. Dicke Ketten trägt der Mann um den Oberkörper, sein Blick ist finster. „Carnage“ nennt er sich in Anlehnung an einen Bösewicht aus den Spider-Man-Comics. Übersetzt bedeutet das so viel wie „Gemetzel“.

"Hier regiert nur einer, Carnage und sonst keiner"

Der Name war in den vergangenen Jahren Programm: Carnage kämpfte unfair, Carnage war brutal. Carnage war ein echter Bösewicht. „Hier regiert nur einer, Carnage und sonst keiner“, skandieren die Zuschauer lautstark. Mittlerweile ist der böse Bube ein Publikumsliebling und zeigt auch mal gute Seiten, Carnage ist ein Antiheld. „Er ist böse, aber gut zugleich“, sagt Boers. Für tiefgründigere Charaktereigenschaften ist ohnehin kein Platz, lange bleiben Gesinnung und Allianzen in diesen Gefilden nicht bestehen.

Wrestling, das ist eine sportliche Seifenoper. Ein Kasperletheater für Erwachsene. Eine Stuntshow im Ring. Erwachsene Männer liefern sich täuschend echte Prügeleien, sie balancieren auf den Ringseilen und nutzen Stühle als Waffen. Sie nennen sich Alex Pain, Bad Bones oder Baron von Hagen. Aber Wrestling ist auch ein Sport, der athletische Höchstleistungen erfordert. Bei dem die Kämpfer im Ring einander vertrauen, die versteckten Zeichen und Signale des Gegenübers lesen müssen. „Der Ausgang eines Kampfes mag klar sein, aber darum geht es uns Catchern gar nicht. Wir wollen unterhalten, wir wollen ein geiles Match zeigen.“

"Ich hätte nie gedacht, dass es dafür einen Verein gibt"

Boers ist 31 Jahre alt, er hat Kampfsporterfahrung im Ringen, Brazilian Jiu-Jitsu und in den Gemischten Kampfkünsten (MMA). Seinem Körper sieht man das tägliche Training an, in Bottrop ist der gebürtige Oberhausener Mitglied der MMA-Abteilung des KSC und deren Fitnesssparte Hartmetall. Doch vor allem ist Boers eines: Catchfan. War er schon immer, bereits als Kind stapelte er die Sammelkarten der amerikanischen Liga WWF, spielte die Kämpfe mit seinem Bruder im Garten nach. Die Lieblingscatcher änderten sich im Laufe der Jahre, doch die Begeisterung für den Sport blieb. Schließlich suchte Freundin Christiane für den damals 20-Jährigen nach einem Wrestlingverein – und wurde in Oberhausen fündig. „Ich hätte nie gedacht, dass es dafür einen Verein gibt“, erinnert sich Boers heute schmunzelnd.

Aufhören? Boers kündigte lieber

Die deutsche Wrestlingszene erlebte damals ein Frühlingserwachen, im Jahr 2000 hatte sich die Liga Westside Xtreme Wrestling gegründet – ganze 17 Zuschauer wollten die ersten Kämpfe in einer Essener Diskothek sehen. Heute ist die Oberhausener Liga ein professionelles Unternehmen mit zwei hauptberuflichen Geschäftsführern. Das jährliche 16-Carat-Gold-Turnier ist die größte Wrestling-Veranstaltung Europas. 700 Zuschauer kamen vergangene Woche an jedem der drei Turniertage nach Oberhausen.

Als „Carnage“ ist Boers eines der Eigengewächse der Liga. Er liebt den Sport, liebt seine Rolle. Boers ist Wrestler durch und durch. Kompromisse? Gibt es nicht. Einmal bat sein Arbeitgeber den gelernten Elektroniker ins Büro. Er solle mit dem Catchen aufhören. Boers überlegte nicht lange – er kündigte. „Ich lasse mich nicht verbiegen, der Sport ist ein Teil von mir!“ Gerade macht er sein Diplom als Sport- und Gesundheitstrainer, später will er als Sporttherapeut für Psychisch-Kranke arbeiten.

Beim Shoot Style sind die Showelemente heruntergeschraubt

Derzeit frönt der 31-Jährige einer besonderen Spielart des Wrestlings: dem Shoot Style. Die Showelemente sind heruntergeschraubt, der Kampfsporthintergrund ist deutlicher. Carnage krönte sich vergangene Woche zum Turnierchampion dieses Stils. Er streckte den Gürtel des Meisters Richtung Hallendecke. „Hier regiert nur einer“, skandierte das Publikum. Boers lächelte. Carnage – und sonst keiner.