Bochum. . Erwin Steden, den der VfL Bochum für 70 Jahre Treue ehrte, ist selten im Stadion. Er gibt sein Geld lieber für Soziales aus. Wie für Kingsley.
Kingsley ließ das Gefängnis hinter sich und tat die ersten Schritte in Freiheit. Doch just in dem Moment, als er darüber nachachte, was er jetzt anders machen wolle, hielt ihn jemand zurück. „Wohin willst du“, fragte ihn der Mann, den er als den Beamten ausgemacht hatte, den er im Knast kennengelernt hatte. Der junge Kongolese stoppte und schaute sein Gegenüber an. „Raus hier“, entgegnete er unsicher. „Das geht nicht“, lautete die Antwort des Aufsehers. Er hatte Kingsley längst in seine Fußball-Mannschaft aufgenommen. „Am Sonntag haben wir ein wichtiges Heimspiel.“
Stummer Beobachter dieser Szene war Erwin Steden. Der Mann, den die Verantwortlichen des VfL Bochum auf der Mitgliederversammlung heuer für seine 70 Jahre dauernde Vereinszugehörigkeit ehrten. Der heute 84-Jährige, der dem Verein so lange treu, aber nur selten im Stadion ist. „Mein Geld“, sagt er bedeutungsschwer, „gebe ich lieber für soziale Zwecke aus.“ Zum Beispiel für junge Menschen, um die er sich kümmerte und kümmert. Wie Kingsley.
Der Lohn: Anerkennung
Die Liste mit Namen benachteiligter Kinder ließe sich lange fortführen. Und alles war freiwillig. Erwin Steden bekam für das, was er für diese Kinder getan hat, kein Geld. Anerkennung hingegen schon.
Kingsley stammt aus einer Familie, die in Erwin Stedens Straße wohnte. Seine Mutter sah sich nach der Flucht mit ihren beiden Söhnen überfordert. Erwin Steden war für die Familie da. Er machte mit Kingsley Hausaufgaben, ging mit ihm zum Fußball. Kingsley war gut, hatte aber ein anderes – zweifelhaftes – Talent. Eines, das ihn ins Gefängnis brachte: „Weltmeister im Schwarzfahren war er.“
Er bringt seine Zuhörer zum Schmunzeln
So, wie der Bochumer das sagt, bringt er seine Zuhörer zum Schmunzeln. Aus gutem Grund: Für ihn hat das Reden über das Heitere, das sich trotz aller Tragik immer wieder zutrug, eine Entlastungsfunktion.
Wenn er von den jungen Menschen erzählt, denen er half, dann schlägt er häufig den Bogen zum Fußball. Weil er einigen Jungen dabei half, in diversen Mannschaften unterzukommen. Auch bei seinem Herzensverein. Er selbst liebt den Sport, spielte in der Schülermannschaft des VfL Bochum, ehe ihn eine Verletzung jäh ausbremste. Der Vereinstreue tat das aber keinen Abbruch, Erwin Steden arbeitete fortan für die Jugendabteilung. Später wurde er Stadionsprecher.
1962 fragte ihn jemand, ob er das wohl machen könne. Für ein Spiel. Beim nächsten mache es dann ein anderer, den finde man schon. Das hatte man ihm gesagt. „Auf den habe ich aber 30 Jahre gewartet“, sagt der 84-Jährige lachend. Er machte seine Sache in der Sprecherkabine gut.
20 Mark Auslagen für ein BVB-Spiel
So gut, dass er sogar bei Borussia Dortmund aushelfen musste, als der BVB-Stadionsprecher Walter Wolniewicz einmal ausfiel. Als Erwin Steden nach getaner Arbeit gehen wollte, fragte man ihn, welche Auslagen er gehabt hatte. Nach einigem Überlegen antwortete er – schlechten Gewissens: „20 Mark.“ Der Angestellte des großen Nachbarn lachte amüsierte und entgegnete: „Unter 150 geht hier keiner raus.“
Beim VfL saß Erwin Steden lange in der Sprecherkabine, ohne einen Pfennig zu kassieren. Vereinsliebe.
Auch wegen dieser emotionalen Verbundenheit zum Verein hat es der gelernte Bürokaufmann geschafft, einen ehemaligen Schützling auf seinem Weg zum VfL-Profi zu begleiten. Irgendjemand sagte ihm, er solle sich Ulrich Bapoh mal beim Spielen anschauen. Der sei ganz gut. Und er kenne den gebürtigen Kameruner doch von der Deutsch-Nachhilfe. Also kaufte sich Erwin Steden ein Ticket für das Lohrheidestadion, wo die SG Wattenscheid die VfL-Junioren empfing. Was er sah: Ulrich Bapoh dribbelte einige Male auf den Torhüter zu. Dann verlor er den Ball.
Nachilfe-Termin mit Ulrich Bapoh
Beim nächsten Nachhilfe-Termin verdonnerte Erwin Steden dem jungen Mann zum Diktat. Das fing so an: „Wenn ich mit dem Ball auf den Torhüter zulaufe, mache ich eine Finte nach links und schiebe den Ball rechts ins Tor.“ VfL-Talent Ulrich Bapoh, der derzeit auf Leihbasis für den holländischen Zweitligisten Twente Enschede spielt, hat den Aufsatz noch. Und versteht seinen ehemaligen Nachhilfe-Lehrer bis heute als Wegbereiter für seine Karriere.
Das gemeinsame Foto von ihm und dem Jungprofi ist eines der ersten Dokumente, das Erwin Steden aus seinen Unterlagen holt. Und es ließe sich noch so viel aus dem Leben des zweitältesten VfL-Mitglieds erzählen. Von vielen Verdiensten rund um den Verein – und um benachteiligte Menschen. Um unermüdlichen, selbstlosen Einsatz.
Demnächst besucht er Kingsley
Wenn Erwin Steden selbst davon berichtet, hören ihm die Leute gern zu. Ganz gleich, wer sein Gegenüber ist. In Bochum kennen sie ihn. Sie kennen das Bild des freundlichen Rentners, der stets mit dem Rad unterwegs ist. Nicht mehr mit dem Auto, denn seinen Führerschein hat er „abgeheftet“, betont er.
Die lange Reise, die im Winter ansteht, wird Erwin Steden allerdings mit dem Zug unternehmen. Es geht nach Straßburg zu einem alten Bekannten. Er besucht Kingsley.