Bochum. 40 Jahre war er Trainer beim TV Wattenscheid, über 140 DM-Titel haben seine Athleten geholt. Nun geht Tono Kirschbaum in Rente. Und bleibt doch.
Anton heißt er. Wie der Großvater, den alle nur „Tono“ nennen. Der einjährige Enkel darf sich freuen, sein Opa hat nun mehr Zeit für ihn. Der Leichtathletik-Verein TV Wattenscheid 01 dagegen verliert seine Trainer-Ikone. Tono Kirschbaum geht in Rente. Am Montag ist offiziell sein letzter Arbeitstag nach 40 Jahren als Trainer an der Lohrheide.
Ganz loslassen will der 65-Jährige nicht. Seine Marathongruppe will er weiter betreuen als Honorartrainer. Hendrik Pfeiffer und Amanal Petros zählen dazu, die bereits die Olympia-Norm für Tokio 2021 in der Tasche haben. „Laufen“, sagt Tono Kirschbaum im weiten Rund des Lohrheidestadions, mit Blick auf seine Runden drehenden Athleten, „war immer meine Passion.“
Die Menschlichkeit steht immer an erster Stelle
Kirschbaum ging es nie nur um den messbaren Erfolg. „Das Tolle an meinem Beruf ist es, junge Menschen zu begleiten, und zwar auf dem sportlichen und parallel beruflichen Weg.“ Viele seiner Ex-Athleten haben auch nach der aktiven Laufbahn Karriere gemacht. Die Menschlichkeit, das Miteinander in einer Individualsport, das Training in Gruppen, die Entwicklung der Persönlichkeit, das lag und liegt Tono Kirschbaum immer am Herzen. Mit den meisten seiner ehemaligen Leistungssportler hat er noch Kontakt, „sie schauen immer gerne mal vorbei“, sagt Kirschbaum. Er lächelt.
Schon als Kind hat er seiner älteren Schwester mittags das Essen gebracht. Laufend im flachen Münster, seiner Heimat. Früh eiferte er seinen Vorbildern nach, Franz-Josef Kemper und Harald Norpoth, letzterer brachte ihm auch das Rüstzeug bei. 1976 kam er als Athlet zum TV Wattenscheid 01. Ein Talent mit Leidenschaft – und anfälligem Körper. Immer wieder gab es Verletzungssorgen. Auch, so Kirschbaum, weil er sich zwischenzeitlich selbst trainierte und dabei überdrehte. Eine Lehre fürs (Trainer-)Leben, sozusagen.
Deutscher Vizemeister 1978
Dennoch war er Ende der 70-er Jahre einer der schnellsten Mittelstreckenläufer Deutschlands, die Deutsche Vizemeisterschaft in Köln 1978 über 1.500 Meter sein größter Erfolg. Mit 25 Jahren aber „habe ich den Kram hingeschmissen“. Achillessehnen- und Sprunggelenks-Probleme sorgten für das Ende seiner aktiven Karriere.
1980 begann er als Honorartrainer beim TV Wattenscheid 01, 1986 wurde aus der Passion sein Job. Sport und Geschichte auf Lehramt hatte er in Bochum studiert, ein Referendariat absolviert, angehende Bergleute unterrichtet und als Filialleiter von Runner’s Point gearbeitet. Der Schritt zum hauptamtlichen Trainer, es war sein berufliches Meisterstück. „Ich hatte immer das Glück, mit guten Talenten in so einem Verein arbeiten zu dürfen, der den Sportlern viele Möglichkeiten bietet“, sagt Kirschbaum. Er blickt auch voller Dank zurück.
Mehr als 140 DM-Titel haben Kirschbaums Läufer geholt
Zunächst kümmerte sich der Spezialist für die Mittel- und Langstreckenläufer um die Jugend, dann um die Spitzenkräfte. Jahrelang war er Cheftrainer des TV 01, zwischendurch Leitender Bundestrainer Laufen des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (2011/2012), zuletzt Bundesstützpunkttrainer an der Lohrheide. Über 140 Deutsche Meistertitel, darunter einige mit Mannschaften, holten seine Athleten. Wo soll man da anfangen? Bei wem aufhören?
Michael Fietz hat er entdeckt, ihn als Schüler vom Laufen begeistert, zum Olympia- und WM-Teilnehmer im Marathon geformt. Rüdiger Stenzel, ehemaliger 1500-Meter-Star und heutiger Geschäftsführer des Stadtsportbundes Bochum, führte er unter anderem zur Silbermedaille bei der Hallen-WM 1997, zu mehreren WM-Teilnahmen und den Olympischen Spielen 1992.
Fitschens EM-Triumph ist ein Höhepunkt
Für die (inter-)nationale Sportwelt ist sicherlich der Triumph-Lauf von Jan Fitschen das größte Stück Sportgeschichte der Kirschbaum-Ära. Fitschen rannte 2006 mit fulminantem Schlussspurt zur Goldmedaille bei den Europameisterschaften in Göteborg. „Große Erfolge sind nur in einem super Umfeld möglich. Tono ist der Grund dafür, dass in Wattenscheid immer eine tolle Stimmung herrschte“, schwärmte Fitschen im Magazin „Laufzeit“. „Auch wenn er nicht mitläuft, ist er selber Athlet seines Teams. Mit seinen Sprüchen und Geschichten stellt er noch die größten Schnacker seiner Laufgruppe in den Schatten“, verrät Fitschen.
Das ist Tono Kirschbaum: Nie der autoritäre Typ, sondern ein Wegweiser und -Begleiter mit offenem Ohr und Humor zur rechten Zeit. „Egal ob Höhen oder Tiefen, mit ihm konnte ich über alles reden“, sagt Marius Probst, der seinen jüngsten Deutschen Meistertitel in Braunschweig Anfang August seinem scheidenden Trainer widmete. „Tono ist eine Art Vaterfigur und mit Abstand der beste Trainer, mit dem ich bislang zusammengearbeitet habe.“
Tono Kirschbaum über seine Trainer-Philosophie
Dabei blieb sich Kirschbaum stets treu. Man lernt immer dazu, sagt er, von ausländischen Trainern etwa, von Athleten selbst, „die können mich immer noch überraschen“. Seine Philosophie sieht dabei eine gute Balance vor: Zwischen „Von nichts kommt nichts“ und „Weniger ist manchmal mehr“, wie er sagt, müsse man den richtigen Weg finden. Und auf Eigenverantwortung achten. „Die Sportler“, sagt Kirschbaum, „müssen mit Hilfe des Trainers auch selbst ein Gefühl für die Methodik entwickeln.“
Golf, Radfahren und vor allem: Mehr Zeit für die Familie
Natürlich: In 40 Jahren gab es nicht nur Höhen. Bei über 140 Deutschen Meistertiteln, schmunzelt Kirschbaum, „gab es bestimmt 280 Nackenschläge“. Die wohl schlimmsten Stunden bescherte ihm seiner seiner Musterschüler, der ihn vier Jahre später mit besagtem EM-Gold beseelte. Bei der EM 2002 in München lag Jan Fitschen, der Medaillenkandidat, einen Tag vor dem Rennen mit Fieber im Bett. „Das war schwer zu ertragen. Für Jan und für mich.“
Und nun? Betreut Tono Kirschbaum weiter die Marathonläufer des TV 01. Will er sein Handicap im Golf unter 30 drücken. Noch mehr Radfahren. Vor allem: Mehr Zeit mit seiner Familie genießen, die seit 25 Jahren heimisch ist in Witten-Heven; mit Ehefrau Conny, mit seinen drei erwachsenen Kindern. Und Anton. Seinem Enkel, der gerade das Laufen lernt.