Essen. Vor 25 Jahren erlebte der TBV Lemgo einen Skandal in Mazedonien. Die Spieluhr wurde manipuliert, Schüsse fielen. Daniel Stephan erinnert sich.

Von dem denkwürdigen Tag in Bitola existieren nur wenige Bilder. Eines aber hat besondere Ausdruckskraft. Es zeigt Frank Ziegler, den Kapitän der Handballer des TBV Lemgo, nach dessen Treffer zum 23:24. Damit wäre der deutsche Vertreter nach dem 25:23-Hinspiel-Erfolg gegen Pelister Bitola im Endspiel des Europapokals der Pokalsieger gewesen. Im Hintergrund feiern seine Mitspieler, darunter auch Daniel Stephan, der spätere Welthandballer und Europameister. Ziegler aber schaut ungläubig auf die Uhr. Die zeigte plötzlich eine halbe Minute mehr Restspielzeit an als Augenblicke zuvor. Ein Verantwortlicher des nordmazedonischen Klubs hatte die Uhr manipuliert. Ein Skandal – und doch nur ein Kuriosum eines Spiels, von dem die, die dabei waren, auch 25 Jahre später sagen, es sei die „Hölle von Bitola“ gewesen.

Eigentlich hatte der TBV Lemgo an jenem 30. März 1996 eine Pflichtaufgabe erledigen wollen. In Nordmazedonien hatte der aufstrebende Bundesligist fest mit dem Einzug ins Endspiel gerechnet. Schließlich hätte niemand ahnen können, dass Pelister Bitola die Partie nicht allein bestreiten sollte, sondern mit der Unterstützung von rund 6000 Fans, darunter zahlreiche offenkundig gewaltbereit. „Wir hatten nicht nur Respekt, wir hatten Angst“, erzählt Daniel Stephan. Der 47-Jährige, geboren und aufgewachsen in Duisburg-Rheinhausen, erinnert sich im Gespräch mit dieser Redaktion an einen der dunkelsten Momente seiner Karriere. An den Manipulationsversuch, an bange Momente in der Kabine und an die furchteinflößende Atmosphäre.

Sitzschalen und Böller fliegen aufs Spielfeld

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Der Schauplatz: Die Mladost-Halle in Bitola. 6000 Zuschauer – „überwiegend junge Männer“, wie Daniel Stephan berichtet – verwandelten den Platz vor der Spielstätte und deren Innenraum lange vor dem Anpfiff in ein Tollhaus. „Als wir ankamen, standen mehrere tausend Leute vor der Halle. Unser Bus wurde beworfen, wir wurden beschimpft. Wir dachten aber erst, dass die Menschen noch auf den Einlass warten“, erinnert sich Stephan. Doch sie irrten sich, drinnen war es schon voll.

Mit Kopf-ab-Gesten, zum Hitler-Gruß gehobenen Armen und „Sieg-Heil“-Rufen begleiteten Anhänger der Gastgeber das Aufwärmprogramm der TBV-Handballer. Der Reporter und Augenzeuge Jörg Hagemann berichtet im Handball-Podcast „Kreis ab“, ein Zuschauer habe eine in der Halle herumfliegende Taube mit bloßen Händen getötet. Zudem flogen brennende Zigaretten Richtung Ersatzbank.

"Eigentlich hätten wir nicht spielen dürfen"

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So etwas hatten Stephan und seine Mannschaftskollegen noch nicht erlebt. Sie hatten sich nicht vorstellen können, dass das Spiel zwischen dem nordmazedonischen Vertreter und den Ostwestfalen zu einem nationalen Ereignis für das noch junge Land deklariert worden war. Dass sich der Nationalstolz sowie der unbedingte Wille, auf internationaler Bühne zu glänzen, in Hass gegen den Gast aus Deutschland und nach dem Abpfiff in Gewalt gegen dessen Spieler wandelte. Dass die Gastgeber mit unfairen Mitteln das Spiel zu gewinnen versuchten. Vergeblich, aber so, dass es niemand, der dabei war, vergessen hat. „Wir haben T-Shirts und Poster verteilt. Aber die Fans haben sie vor unseren Augen zerrissen“, berichtet Stephan von ersten feindseligen Gesten.

Kurz darauf staunten die Lemgoer erneut: Weil es in der Halle so stickig war, wölbte sich der Holzboden. „Eigentlich hätten wir nicht spielen dürfen“, findet Daniel Stephan. Doch die tobende Menge wollte das. Also flickten Handwerker notdürftig die Spielfläche, die Partie nahm ihren Lauf – mit dem im internationalen Handball unvorstellbaren Ende. Bis heute ist Stephan den beiden Schweizer Schiedsrichtern dankbar dafür, dass sie durchgriffen und den Manipulationsversuch vereitelten: „Sie hatten den Mut, das Spiel zu beenden.“

Die Ereignisse hatten Konsequenzen

Abpfiff. Lemgo hatte das Endspiel erreicht. Doch nun flogen Sitzschalen, Becher und Böller aufs Spielfeld. Augenzeugen berichten gar von Schüssen in der Halle. Ein Spießrutenlauf zum Umkleideraum, wo sich die Spieler sicher fühlten. „Wir haben uns kurz übers Weiterkommen gefreut. Dann wurde uns klar, dass auch direkt vor der Kabine Gefahr droht“, erinnert sich Stephan. Etwa eine Stunde habe es gedauert, bis die Polizei die verängstigten Ostwestfalen rettete.

Die Ereignisse hatten Konsequenzen: Pelister Bitola durfte zwei internationale Spiele nicht in der Mladost-Halle austragen, musste zudem 10.000 Schweizer Franken an den Europäischen Handball-Verband EHF zahlen. Und der TBV? Der holte gegen CB Santander aus Spanien seinen ersten internationalen Titel. Daniel Stephan sieht in den Ereignissen von Bitola einen Meilenstein dorthin: „Was wir da erlebt haben, hat uns zusammengeschweißt.“