Berlin. Die Handballer feierten ihren sensationellen Europameistertitel wild und ausgiebig. Alle sind sich sicher: Dieses Team hat eine große Zukunft.

Die müden Handball-Helden tanzten mit Rest-Adrenalin zum Toten-Hosen-Hit "Tage wie diese", vor 10.000 glückseligen Fans rieselte schon wieder goldenes Konfetti von der Hallendecke. Zwar waren die Spuren einer wilden Nacht überdeutlich, aber nach 20 Stunden Siegesrausch am Stück zündeten die Sensations-Europameister in Berlin auch die letzte Stufe.

Die "Bad Boys", die in phänomenalen zweieinhalb EM-Wochen in Polen so viele Zuschauer mitgerissen hatten, genossen noch einmal jede Sekunde. Nur ein übergroßes Pils-Glas war um 17 Uhr am Montagnachmittag nicht mehr allzu beliebt.

Partynacht in Krakau

"Das ist atemberaubend. Einfach unglaublich!", rief Torhüter Andreas Wolff mit knarziger Stimme, die Ansage an seine heiseren Teamkollegen war eindeutig: "Berlin reißen wir auch noch ab!"

Nach dem goldenen EM-Triumph gegen Spanien hatte es schon am Sonntagabend in Krakau keinerlei Zurückhaltung mehr gegeben. Schon vormittags in Polen hörte sich Wolff an wie ein rostiges Gartentor, Tobias Reichmann und den anderen ging es nicht anders. "Ich war um sieben im Bett. Dann habe ich zwei Stunden geschlafen", röhrte Wolff gegen 11 Uhr, als die trägen Helden nicht nur freudetrunken aus dem Hotel geschlurft kamen.

Mannschaft trägt sich ins goldene Buch der Stadt Berlin ein

Es folgte ein 90-minütiger Party-Flug in der Chartermaschine nach Berlin. Auch im Bus sangen die "bösen Jungs" ihre Lieder danach eher laut als schön, und Julius Kühn bekam seine x-te Gänsehaut. "Ich war vor einer Woche auf der Couch, jetzt komme ich als Champion nach Hause! Kai Häfner geht es genauso. Wahnsinn", sagte der nachnominierte Rückraumspieler vom VfL Gummersbach. Auch er durfte sich ins Goldene Buch der Stadt Berlin eintragen.

Alle hatten im Gewölbekeller des Edel-Restaurants "La Grande Mamma" im Herzen der Krakauer Altstadt bis tief in die Nacht auf ihren Stühlen getanzt - Andi Wolff und der normalerweise so ruhige Erfolgstrainer Dagur Sigurdsson, die Triebfeder "des Wunders von Krakau", in erster Reihe. "Wir haben sehr, sehr gut gefeiert. Vollgas!", berichtete Kühn.

EM-Titel von historischer Dimension

Sigurdsson war fast schockiert vom famosen 24:17 seiner jungen Mannschaft gegen überforderte Spanier. "Ich bin überglücklich, überstolz und fassungslos! Man kann das fast nicht glauben", sagte der 42-Jährige.

In der Tat: Der Höhenrausch hatte eine neue Dimension erreicht. Zum Abschluss verschob die "Rasselbande" des Turniers nochmals ihre Grenzen. Einem Vergleich mit den EM-Coups der Fußballer Dänemarks 1992 und Griechenlands 2004 hält der Titelgewinn der DHB-Auswahl locker stand.

Wolff schien das Torwartspiel gegen Spanien mit unfassbaren Paraden und wahnwitzigen 48 Prozent gehaltener Bälle neu definiert zu haben. Doch darüber wollte er gar nicht so groß reden - zwischen Bier und Champagner schaute die Schlüsselfigur des Handball-Märchens nach vorne.

Wolff denkt schon an Olympia und die WM

"Vielleicht ist dies die Geburt einer großen Generation", sagte er. "Wir haben mit dieser geilen Mannschaft das Potenzial, alles zu gewinnen, was uns im Weg steht. Wir holen uns noch den WM-Titel und den Olympiasieg!" Der Glaube, das haben bis zu 17,4 Millionen Zuschauer live in der ARD (Schnitt: 12,98 Millionen) gesehen, könne "einen ganzen Gebirgszug versetzen".

Im tosenden Jubel gab es jedoch auch leise, mahnende Stimmen. Während Mannschaft und Trainer die Nacht zum Tage machten, saß die DHB-Spitze bei einer "teuren Flasche Rotwein" im Hotel zusammen. Eines der Themen: Wie kann der Hype genutzt werden? Wie kann der Handball dauerhaft profitieren, ohne innerhalb von Wochen wieder zu versinken? So ein "geiler Sport", das sagten alle unisono, müsse sich doch besser vermarkten lassen.

"Ich warne davor, jetzt schon zu glauben, dass wir weltklasse sind", sagte Verbands-Vizepräsident Bob Hanning. "Es wird Rückschläge geben. Deutschland wird auch noch Handball weinen müssen." Die Ziele, das ist klar, bleiben (offiziell) der Olympiasieg 2020 und die Heim-WM 2019. Jedoch, betonte Hanning: "Man sollte mitnehmen, was auf der Straße liegt."

EM-Gold soll Beginn eines Aufstiegs sein

Der EM-Titel lag definitiv nicht auf der Straße. Irgendwie aber schaffte es diese Mannschaft, an den Verletzungssorgen zu wachsen, die Emotionen als Schub zu nehmen und im Adrenalinrausch den Thron zu stürmen. Im Gegensatz zu 2007, als es nach dem WM-Titel rasant bergab ging, soll das EM-Gold von Polen nur der Anfang eines Aufstieges sein. "Das wird eine Riesenaufgabe", sagte Teammanager Oliver Roggisch, einer der Weltmeister von damals.

Ob die Erwartungen nun neu definiert werden müssen? Nach der verpassten Quali für Olympia 2012 und der EM 2014 ohne deutsche Beteiligung heißt es für die DHB-Auswahl: plötzlich Europameister. Man mag es kaum aussprechen, aber angesichts der bevorstehenden Rückkehr von Leistungsträgern wie Kapitän Uwe Gensheimer oder Steffen Weinhold könnte das Ziel sein: Olympiasieg! Und zwar schon 2016. (sid)