Berlin/Breslau. Nach vielen Verletzungen baut Bundestrainer Dagur Sigurdsson auf Nachwuchs-Spieler. Legende Heiner Brand traut Deutschland sogar eine EM-Medaille zu.

Die bösen Überraschungen folgten fast im Minutentakt. Kreuzband, Muskelfaserriss, Probleme an der Hüfte. Der Kader von Handball-Bundestrainer Dagur Sigurdsson verlagerte sich mehr und mehr weg vom Spielfeld hin zu den Ärzten. Und dann noch diese Auslosung. „Todesgruppe“ nannte Bob Hanning, der Vizepräsident des Deutschen Handballbundes, das, was ab Samstag auf die Mannschaft zukommt. An diesem Tag beginnt für die Deutschen die Vorrunde der Europameisterschaft in Polen mit dem Spiel gegen Spanien (18.30 Uhr/ZDF), also gleich mit einem dicken Brocken.

Eine neue Chance

Schlimmer konnte es ja eigentlich nicht mehr werden. Bei der Europameisterschaft 2014 in Dänemark saßen die deutschen Handballer zu Hause auf dem Sofa, als sich die Franzosen den Titel holten. Und im vergangenen Jahr, als die großen Nationen um die WM-Krone kämpften, durfte die DHB-Auswahl nur deshalb nach Katar fliegen und mitspielen, weil man eine so genannte Wildcard ergattern konnte. Qualifiziert war die deutsche Truppe nicht.

Es ist also ein Fortschritt, dass die DHB-Auswahl aufgrund sportlicher Leistungen wieder mit von der Partie ist, wenn in Polen ein großer Titel zu vergeben ist. Und jawohl, nachdem die deutschen Handballer bei den vergangenen Großereignissen kaum mehr waren als Mitläufer, sind die Ansprüche sehr bescheiden geworden. Somit kann das Team eigentlich nur gewinnen.

Auffällig ist jedenfalls, dass sich die Experten mit Prognosen zurückhalten. Zum einen gibt es Hoffnung, weil die Truppe von Dagur Sigurdsson spätestens nach dem Sieg im Supercup als hoch talentiert gilt, zum anderen aber ist Vorsicht geboten, weil mit Paul Drux, Patrick Wiencek, Patrick Groetzki und vor allem Mannschaftskapitän Uwe Gensheimer ganz wichtige Stützen verletzt fehlen.

Für Rampenlicht ist jedenfalls gesorgt. Nach drei Jahren steigt das öffentlich-rechtliche Fernsehen wieder ein und bietet eine willkommene Bühne, auf der eine darbende Sportart wieder einen Schub nach vorne bekommen kann. Voraussetzung sind starke Auftritte. Und da kann man nur die Daumen drücken. Einen noch stärkeren Fußball braucht kein Mensch. (Artur vom Stein)

Der ehemalige Bundestrainer Heiner Brand sagte kürzlich: „Es wird kein Selbstläufer, aber eine Medaille ist möglich.“ Das Konzept Marke Sigurdsson hält Brand für richtig: „Dieses Team hat eine tolle Perspektive. Mit so vielen jungen, guten Spielern kann keine andere Nation aufwarten.“

Er ist nicht der einzige Experte, der den Deutschen zumindest Außenseiterchancen zutraut. So weit würde Dagur Sigurdsson nicht gehen. In seiner pragmatischen Art hat er sich immerhin diese Aussage entlocken lassen: „Bei der Auslosung waren wir in Topf drei eingestuft. Das heißt Platz neun bis zwölf. Das wollen wir bestätigen.“

Schon als Vereinstrainer hat Sigurdsson dem Nachwuchs eine Chance gegeben

Grund genug zum Jammern hätte der Bundestrainer. Doch das ist nicht Dagur Sigurdssons Stil. „Es waren ein paar Kleinigkeiten mit Verletzungen, aber es ist trotzdem so gelaufen, wie ich mir das gewünscht habe“, sagte der 42-Jährige ganz unaufgeregt im Interview mit der Berliner Morgenpost. Und das bei diesen Fakten: Innerhalb einer Woche hatten sich Uwe Gensheimer und Patrick Groetzki so schwer verletzt, dass sie absagen mussten – die beiden etatmäßigen Außenspieler. Sie werden jetzt genauso zum Zuschauen verdammt sein wie Michael Allendorf, der Gensheimer ersetzen sollte, und Kreisläufer Patrick Wiencek.

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In seiner eineinhalbjährigen Amtszeit ist der Bundestrainer mit einer Mischung aus Pragmatismus und Besonnenheit in Erscheinung getreten. Nicht weinerlich werden, weitermachen. Und so füllte der Isländer die länger werdende Liste von Ausfällen zuverlässig mit jungen, frischen aber vielleicht weniger erfahrenen Spielern auf. Schon während seiner sechs Jahre als Vereinstrainer bei den Berliner Füchsen hatte Sigurdsson dem Nachwuchs gerne eine Chance gegeben.

Die EM vergleicht der Trainer mit einer Serie von Prüfungen: „Das Schlimme ist, du kriegst die Note sofort. Du bist durchgefallen oder du hast es geschafft.“ Werden sie durchfallen? Und wenn ja, wann? Schaffen sie es? Und wenn ja, was? Am Donnerstag haben sich die Deutschen auf den Weg nach Breslau gemacht. Dort warten in der Gruppe C neben den Spaniern noch Schweden (18. Januar, 20.30 Uhr/ARD) und Slowenien (20. Januar, 17.15 Uhr/ ZDF).