Doha. Die Technik-Revolution kam überraschend, aber dafür vollständig. Bei der Handball-WM in Katar werden strittige Szenen per Videobeweis entschieden. Doch das “zusätzliche Auge für die Schiedsrichter“ kann noch viel mehr.
"Big Brother" im Handball: Bei der WM in Katar hat der Weltverband IHF handstreichartig mit dem Videobeweis eine Komplettüberwachung des Spiels eingeführt und damit fast beiläufig den Fußball überholt. Was der Verband als "zusätzliches Auge für den Schiedsrichter" preist, ist mehr als nur eine simple Torlinientechnologie. Denn nicht nur die strittige Frage, ob Tor oder nicht Tor, kann geklärt werden, sondern durch das "Video Referee Assistance System" können grobe Regelverletzungen an jeder Stelle des Spielfeldes aufgedeckt werden.
Die Technik-Revolution findet breite Zustimmung. Nicht nur Funktionäre, auch die Schiedsrichter und Spieler loben die Neuerung. "Ich finde des unheimlich gut", schwärmte Bernhard Bauer, Präsident des Deutschen Handballbundes (DHB). Das Spiel sei so schnell, die Würfe der Spieler so hart und trickreich, dass jede Entscheidungshilfe willkommen ist. Auch Weltmeister-Trainer Heiner Brand, der Mitglied der Schiedsrichter- und Regelkommission im Weltverband ist, begrüßte den Videobeweis. "Er ist nicht für die Existenz des Handballs notwendig, aber er kann in einigen Dingen ganz hilfreich sein. Da muss man sich der Technik nicht verschließen. Das machen andere Sportarten ja auch nicht wie Basketball oder Eishockey", sagte der scheidende DHB-Sportmanager.
Technologie bei WM kurzfristig eingeführt
Dabei hat die IHF im Vorfeld einmal mehr jede Art von Transparenz vermissen lassen. Die 24 Mannschaften sind erst zwölf Stunden vor Beginn des WM-Turniers vom Videobeweis informiert worden. Und selbst die Schiedsrichter wussten lange nichts davon. "Wir haben auch erst zur WM davon im Mini-Kurs erfahren", berichtete Lars Geipel, der mit seinem Partner Marcus Helbig bereits zwei Spiele in Doha geleitet hat. Nichtsdestotrotz ist auch das Gespann aus Sachsen-Anhalt von der neuen Technik überzeugt. "Es hilft uns als Schiedsrichtern ungemein, dass es eine objektive Entscheidung gibt und unnötige Diskussionen vermeidet", meinte Geipel.
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Entwickelt wurde das System von der französischen Firma Vision Sport und funktioniert recht einfach. Insgesamt neun Kameras überwachen das gesamte Spiel. Jeweils drei sind hinter den Latten der Tore in kleinen Kästen angebracht und zeigen, ob der Ball hinter der Linie war. Drei weitere Kameras stehen oberhalb des Spielfeldes auf Höhe der Mittellinie auf einem Stativ und überblicken das Parkett. Sämtliche Bilder laufen beim Supervisor als höchste Instanz des Spiels auf einem Bildschirm auf. Nur er kann strittige Szenen überprüfen. Über Headsets ist er mit den Schiedsrichtern verbunden, die dann eine Entscheidung treffen.
Angewendet wird der Videobeweis vorerst in fünf Punkten: 1. Tor oder kein Tor, 2. ist ein Tor noch innerhalb der Spielzeit gefallen, 3. Rudelbildung, 4. Rote Karte gegen einen falschen Spieler und 5. eine Tätlichkeit, die im Rücken der Schiedsrichter geschieht. "Ich denke, dass das in manchen Situationen hilfreich und sinnvoll ist. Die Schiedsrichter werden sich darauf einstellen und wenden es dann an", sagte der deutsche Spielmacher Martin Strobel.
Teams haben keinen Zugriff auf den Videobeweis
"Wir wollen nicht die Entscheidungen der Schiedsrichter revidieren. Das System soll ihnen nur helfen. Manchmal ist es nicht einfach zu sehen, ob Tor oder nicht Tor, weil der Ball zu 100 Prozent hinter der Linie sein muss", sagte der spanische Supervisor Ramon Gallego, einer von nur sechs Aufsehern. Getestet wurde das Videosystem zuerst beim Endrundenturnier im EHF-Pokal 2013 im französischen Nantes sowie anschließend unter anderem bei zwei Super Globe-Turnieren in Doha. Anwendung fand die Torlinientechnologie erstmals im deutschen WM-Auftaktspiel, als den Polen ein Tor zuerkannt wurde, das nach Meinung der Spieler keines war. Die Mannschaften aber haben keinen Zugriff auf den Videobeweis. Den können nur die Referees anfordern oder er kann vom Supervisor angeordnet werden.
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Über die Kosten für das System werden keine Angaben gemacht. Dennoch ist es für die deutschen Handball-Hallen kein Thema. "In der Bundesliga ist es derzeit aber aus Kostengründen völlig unrealistisch", sagte Geipel. Und DHB-Generalsekretär Mark Schober führte ins Feld: "In Deutschland wird es das vorerst nicht geben, weil der technische Aufwand zu groß ist." (dpa)