Santo Andre. Niemand hatte Benedikt Höwedes vor der Fußball-Weltmeisterschaft als Stammspieler auf der Rechnung. Jetzt zahlt sich die Vielseitigkeit des Schalke-Kapitäns aus. Auf der linken Seite setzt Bundestrainer Joachim Löw auf ihn - auch im Finale.

Draußen hat der winterliche Regen Brasiliens nachgelassen, drinnen in einem großen weißen Zelt sitzt Benedikt Höwedes. Das Zelt befindet sich in unmittelbarer Umgebung des deutschen Mannschaftsquartiers in Santo Andre. Es ist der Ort, an dem sich die Fußball-Nationalmannschaft aus ihrer Abschottung heraus an die Heimat und die Weltöffentlichkeit wendet.

Drei Tage sind es noch bis zum großen Finale dieser WM gegen Argentinien (Sonntag, 21 Uhr, live in unserem Ticker). Journalisten aus aller Welt sind gekommen, in der letzten Reihe surrt eine Armada aus Kameras leise vor sich hin, allzeit bereit, jedes Wort in jeden Winkel dieses Erdballs zu transportieren. Und vorne, ganz vorne, dort, wo die Scheinwerfer alles ins rechte Licht rücken und die wichtigen Worte gesprochen werden, sitzt nun Benedikt Höwedes. Rotes Polohemd, blaues Auge.

Null Einsatzminuten für Höwedes bei der EM 2012

Diese Szenerie so kurz vor dem Höhepunkt des Turniers mit Höwedes in einer der Hauptrollen traute sich vor diesem Turnier kaum jemand zu ersinnen. Der Profi des FC Schalke 04 galt als einer, der mit ein bisschen Glück seinen Platz im 23er-Kader von Bundestrainer Joachim Löw würde ergattern können. So war es ja 2012 bei der EM auch. Höwedes war dabei, mehr nicht. Null Einsatzminuten, danke, bis zum nächsten Mal. Der Gedanke, dass es zwei Jahre später sicher wieder so laufen würde, ist nicht sehr charmant, aber nahe liegend gewesen.

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Tatsächlich aber ist alles anders. Höwedes, der gelernte Innenverteidiger, hat neben Größen wie Philipp Lahm und Manuel Neuer einzig alle Spiele über 90 Minuten bestritten – als Linksverteidiger. Am Sonntag im Finale von Rio de Janeiro wird er nicht nur dabei sein, sondern auch eine Schlüsselaufgabe zu erledigen haben: Auf seiner Abwehrseite treibt der filigrane Mehrfach-Weltfußballer Lionel Messi einen großen Teil seines Unwesens.

Nicht jeder traut ihm das zu. Aber das kennt er ja. Er lächelt. Es ist kein gequältes Lächeln, sondern eines, das für Zuversicht aufrichtiges Amüsement steht. „Für mich ist das, was gerade passiert, Wahnsinn. Wir stehen im Finale, da kann auch ich nicht alles verkehrt gemacht haben“, sagt er gelassen. „Derjenige, der mich als Schwachpunkt ausmacht, muss mir das erstmal erklären. Ich bin keiner, der für offensiven Schwung sorgt und Flanken schlägt, aber defensiv erfülle ich meine Aufgaben bislang.“

Höwedes links - Löw war schon vor dem Kamerun-Spiel fest entschlossen

Genau deshalb bietet Joachim Löw in auf. Das war der Plan, den der Bundestrainer nach Informationen dieser Zeitung früher hatte als bislang gemeinhin angenommen. Schon vor dem vorletzten Testspiel gegen Kamerun war Löw entschlossen, den 26-Jährigen als Linksverteidiger einzusetzen. Dazu passt Höwedes’ Aussage, sich „die Frage nicht gestellt“ zu haben, ob er im Kader sein wird. Er wusste es mehr oder weniger. Und arbeitete nach einer Saison voller Rückschläge und Verletzungen an sich, um auf den Punkt topfit zu sein. Das ist er nun – und hat auf der neuen Position längst in die Mannschaft und ins Turnier gefunden. Der Mann aus Haltern am See könnte am Sonntagabend an der Copacabana Weltmeister werden. Höwedes, der Aushilfsweltmeister.

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Höwedes hat jede Menge internationale Erfahrung, mit Schalke präsentiert er sich in der Champions League, sein erstes Profi-Spiel überhaupt absolvierte er in der Königsklasse, gegen Rosenborg Trondheim, als Außenverteidiger. Er galt einst als die große Innenverteidiger-Hoffnung des Landes, aber seine Vielseitigkeit schien ihm im Wege zu stehen. Mal musste er in der Schalker Not links verteidigen, mal rechts. Und so richtig wusste der gemeine Fußball-Fan gar nicht mehr, auf welcher Position dieser junge Mann eigentlich zu Hause ist. Die Frage verfolgte ihn über Jahre: Ist so viel Flexibilität eher Segen oder Fluch? Mehrt sie sein Ansehen oder steht sie vielleicht einer noch größeren Karriere im Wege?

Es ist eine feine Pointe, dass es nun jene Variabilität ist, die ihn nicht nur nach Brasilien, sondern mitten hinein in einen riesigen Traum katapultierte. „Die Spiele hier übertreffen vieles von dem, was ich bislang erlebt habe“, sagt er, „und das Finale wird der Höhepunkt sein.“ Mehr als 70.000 Zuschauer im Maracana, Argentinien gegen Deutschland, WM-Finale – und Höwedes mittendrin. Der Tag naht, an dem sich das geduldige Warten und Beantworten der Fragen gelohnt haben könnte.

Höwedes kann bei Standards eine Waffe sein

Messi ist ein fantastischer Spieler“, blickt er voraus, „aber auch er ist Teil einer Mannschaft. Wir müssen die Zuspiele auf ihn verhindern, dürfen ihn nicht ins Spiel kommen lassen. Das wird eine reizvolle Aufgabe.“ Eine, die sich an dieser Stelle noch nicht erschöpft. Denn Teil des Löw’schen Plans mit Höwedes ist auch, sich seine Kopfballstärke zu Nutze zu machen. Gegen Ghana bereitete er den Ausgleich nach einer Ecke vor. Standards sind so gefährlich wie selten im deutschen Team, enge Spiele können so entschieden werden. Das Finale wird eng. „Wir trainieren das“, sagt Höwedes und schmunzelt, weil er sich dabei jüngst das leuchtende Blau unter dem Auge zugezogen hat: „Standards können eine Waffe sein.“ Zugespitzt: Höwedes kann eine Waffe sein. Es ist fraglich, ob das im Messi-Land jeder so genau weiß. Auch wenn seine Worte in alle Welt entsendet werden.