Essen. Mal ehrlich: Woran denken wir, wenn wir von der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland schwärmen? An wenig sportliche Momente, sondern vorallem an die große, nationale Party, die uns die Klinsmann-Elf bescherte. Anders ist es 2014, die WM in Brasilien begeistert vor allem sportlich.

Mal ehrlich: Woran denken wir, wenn wir von der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland schwärmen? Natürlich an eine leidenschaftliche Klinsmannschaft, na klar. Auch an die grandiose Stimmung im ganzen Land, an Fanfeste, an diesen ganz neuen Spaß, erstmals unbeschwert und unbekümmert zu seiner Fußballmannschaft stehen zu können – mit all der nationalen Symbolik, die anderen Ländern nie fremd war. Nie gab es mehr Schwarz-Rot-Gold, und die Welt sah zu und staunte: Schau an, die Deutschen können tatsächlich locker sein.

Aber fußballerisch? An wie viele fesselnde Spiele ohne deutsche Beteiligung erinnern wir uns noch? Wie oft haben wir mit der Zunge geschnalzt? Wann waren wir vor Spannung infarktgefährdet? Vor acht Jahren erlebten wir eine Publikums-WM, das Turnier in Brasilien beschert uns hingegen auch sportlichen Reichtum. Nach 56 von 64 Spielen wissen wir: Diese WM hat einen besonderen Charakter.

Die Tore

Zum Gähnen waren die Spiele selten, auch wenn sie in Europa erst in der Nacht endeten. Im Schnitt fallen 2,8 Tore pro Partie – der beste Wert seit Mexiko 1970 (2,97). Kein Team blieb ohne eigenen Treffer und auch nicht ohne Gegentor. Auffallend: Standards sind wertvoll, jedes vierte Tor resultiert aus der gekonnten Verarbeitung eines anfangs ruhenden Balles. Bemerkenswert ist auch, dass viele eingewechselte Spieler erfolgreich sind. Es gab schon 28 Tore von Jokern. „Das ist Glück“, behauptet der niederländische Trainer Louis van Gaal. Ob er tatsächlich glaubt, was er da sagt?

Die Fitness

Womit wir beim Thema Klima wären. Die Joker treffen häufig, weil sie noch nicht ausgelaugt sind. Überhaupt: Erfolgreich sind oft Teams, denen kurz vor Schluss nicht die Puste ausgeht. Brasilien zwingt die Spieler auch in der Mittagshitze bei hoher Luftfeuchtigkeit zu Höchstleistungen, sie überschreiten Grenzen. Wadenkrämpfe in der 119. Minute sind logisch, nicht verwunderlich.

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In der Vorrunde sah es lange Zeit danach aus, als würden die an die klimatischen Bedingungen gewöhnten Süd- und Mittelamerikaner die WM am Ende unter sich ausspielen. „Sie können mit den Bedingungen gut umgehen“, meinte Bundestrainer Joachim Löw anerkennend. Inzwischen stellt sich heraus, dass auch europäische Teams wie Deutschland, die Niederlande, Frankreich und Belgien späte Entscheidungen erzwingen können.

Die Überraschungen

Schon dass England in der Vorrunde scheitern würde, war kaum vorauszusehen. Aber Italien? Portugal mit dem Weltfußballer Cristiano Ronaldo? Und vor allem: Spanien? Diese WM lebt auch davon, dass Tippzettel zerrissen werden können. Oder hatte tatsächlich jemand Kolumbien und Costa Rica fürs Viertelfinale auf der Rechnung?

Die Taktik

Zwei Stürmer oder ein Stürmer oder falsche Neun? 4-4-2 oder 4-2-3-1 oder 4-3-3? Trainer basteln lange an ihren Systemen, doch bei dieser WM zeigt sich, dass am stärksten die Teams sind, die auf bestimmte Situationen reagieren und sowohl ihre Formationen justieren als auch den Rhythmus verändern können. Die Afrikaner beherrschten das zu selten: Auch deshalb sind sie komplett draußen.

Die taktische Aufstellung gaukelt oft Falsches vor. Beispiel Deutschland: Angeblich werden drei Angreifer aufgeboten, tatsächlich sind es drei offensive Mittelfeldspieler, die je nach Bedarf ihre Positionen tauschen und in die Spitze vorstoßen.

„Wir brauchen nicht zu denken, dass wir im Besitz der einzigen Wahrheit sind“, hatte Spaniens Trainer Vicente del Bosque vor dem Turnier gesagt. Mit Ballbesitzfußball wurde Spanien Welt- und Europameister, die langen Kurzpassfolgen waren legendär und stilprägend. Aber sie sind längst kein Allheilmittel mehr.

Statt Tiki-Taka heißt es bei dieser WM: Tik-Tak-Tor. Schnelles Umschalten nach der Ball-Eroberung und direktes vertikales Spiel haben viele Partien entschieden. Überfallartig siegten die Niederländer und die Chilenen gegen die erfolgsverwöhnten Spanier, die diese Form von Druck nicht kannten. Sie hatten es nicht gelernt, Rückständen hinterherzulaufen.

Und wer sich die Kräfte einteilen will, wird von geschlossenen und entschlossenen Teams überrannt. Die Italiener glaubten, gegen Costa Rica das Tempo verschleppen zu können. Sie lieferten dem Fernsehen die Zeitlupe in natura. Am Ende musste Trainer Cesare Prandelli eingestehen: „Wir haben einfach viel zu langsam gespielt.“

Die Spannung

Schon in der Vorrunde gab es Spiele, bei denen taktische Vorgaben über den Haufen geworden wurden, als der Spielstand den offenen Kampf erforderte: Deutschland gegen Ghana zum Beispiel. Vor allem die Achtelfinals waren hochdramatisch, weil es gegen Ende rauf und runter ging – besonders in den Spielen Costa Rica gegen Griechenland und Belgien gegen die USA. Und auch wenn sich Favoriten wie Deutschland, Brasilien, Frankreich, Argentinien oder die Niederlande am Ende behaupteten – sie wurden gefordert bis zum Schluss.

Die Stars

Es glänzen auch bei dieser WM einzelne Profis, die ihre Teams prägen und tragen: der Argentinier Lionel Messi, der Brasilianer Neymar, der Niederländer Arjen Robben. Und, für viele überraschend: der Kolumbianer James Rodríguez. Die Fußballwelt erfreut sich daran, dass ein neuer Stern aufgegangen ist. Und sie registriert mit Wehmut, dass manche Ära zu Ende geht. Die Spanier Iker Casillas, Xavi und Xabi Alonso, die Italiener Andrea Pirlo und Gianlugi Buffon, die Engländer Steven Gerrard und Frank Lampard, der Kameruner Samuel Eto’o oder Didier Drogba von der Elfenbeinküste: Sie alle schenkten uns große Momente – aber nicht mehr in Brasilien.