Fortaleza. Das enttäuschende 0:0 gegen Mexiko am Dienstagabend machte deutlich: Die Mannschaft des WM-Gastgebers Brasilien ist zu berechenbar. Trainer Luiz Felipe Scolari muss Erwartungen relativieren und sein Team dennoch stark reden.
Es gibt Momente, in denen sich Fußballer auf Halbwahrheiten zurückziehen müssen, in denen sie bewusst gegen die Mehrheitsmeinung argumentieren, und nachdem das 0:0 gegen Mexiko in ganz Brasilien als große Enttäuschung empfunden wurde, war solch eine wohl durchdachte PR-Strategie dringend erforderlich. Die Stimmung im Gastgeberland ist schließlich immer ein bedeutsamer Faktor bei so einer WM, aber statt nach und nach in Euphorie zu verfallen, werden die Leute immer skeptischer. Das ist gefährlich. Und so begaben sich die wankenden Helden auf die Suche nach Facetten des Nachmittags, die Hoffnung machen. „Wir machen in jedem Spiel Fortschritte“, sagte beispielsweise Kapitän Thiago Silva und David Luiz ergänzte: „Mit der Art und Weise, wie das Team gespielt hat, bin ich glücklich, es war eine tolle Show, auf dem Platz und daneben.“
Zauberhaftes Publikum in Fortaleza beim 0:0 zwischen Brasilien und Mexiko
Diese Aussagen waren sicher nicht ganz falsch, das Publikum war tatsächlich zauberhaft, die 40.000 Brasilianer feierten mit den rund 20.000 Mexikanern ein wunderschönes Fußballfest, und sie erlebten ein intensives und sehr spannendes Fußballspiel. Aber sie sahen auch, wie die Seleção nach zwei WM-Partien aus dem Himmel des über allem schwebenden Favoriten gefallen und unter den Normalsterblichen angekommen ist. Brasilien ist ein Team Fehlern, Makeln und Schwächen, das sich wie die anderen 31 Teilnehmer oft vergeblich an der komplizierten Kunst des WM-Fußballs versucht.
Maradona lästert über Brasiliens Leistung
Kritik an der Leistung der Brasilianer kam auch von Argentiniens Alt-Star Diego Maradona: „Wenn es einer der Favoriten sein möchte, muss Brasilien sich stark verbessern.“ Maradona lästerte, dass Brasilien sich eher durch die Hilfe der Schiedsrichter weiter verbessern könne „als durch das eigene Verdienst“. Die Schiedsrichter würden Brasilien bei dieser WM offenbar schonen.
Die Brasilianer rannten an, sie arbeiteten und kämpften in der Nachmittagshitze von Fortaleza, aber sie scheiterten auch. Am überragenden mexikanischen Torhüter Guillermo Ochoa und – das ist vielleicht die erstaunlichste Erkenntnis, die nach dieser Partie bleibt – an den eigenen Grenzen. Der brasilianischen Offensive mangelt es an Flexibilität, selbst eine Defensive mit international kaum bekannten Spielern, die von dem in die Jahre gekommenen Rafael Marquez zusammen gehalten wird, war in der Lage Leute wie Oscar, Fred, Jo Bernard und auch Neymar zu stoppen.
Der Superstar hatte zwar eine große Chance, aber meist konnten die Mexikaner ihn kontrollieren. „Neymar kann nicht allein gewinnen oder verlieren, in unserer Gruppe hat er vielleicht ein höheres Potential als die anderen, aber er braucht die anderen“, sagte Trainer Felipe Scolari, und das waren Worte, die einerseits an das Team gerichtet waren, das sich manchmal vielleicht ein wenig zu sehr auf die Fähigkeiten ihres Stars verlässt. Und andererseits an die Fußballnation, die nicht nur von Neymar erwartet, zum entscheidenden Faktor dieser WM zu werden, sondern auch einen bizarren Personenkult um den 22-Jährigen betreibt.
Brasiliens Sehnsucht nach dem WM-Titel fokussiert sich auf Neymar
In jedem zweiten Laden, in Supermärkten, bei Straßenhändlern, in Drogerien und an roten Ampeln werden Brasilien-Trikots angeboten, wer allerdings ein Exemplar ohne die 10 und den Schriftzug „Neymar Jr.“ auf den Rücken erwerben möchte, der muss lange suchen. Die ganze Sehnsucht nach dem WM-Titel fokussiert sich auf diesen einen Spieler, und je länger die Partie gegen die Mexikaner lief, desto greifbarer wurde die Hoffnung des Volkes auf das nächste Neymar-Wunder. Bei jeder Ballberührung des Angreifers in Strafraumnähe raunten die Menschen im Stadion, es wäre eine Art Wunder, wenn Neymar diese Situation meistert. Zumal aus der Mannschaft wenig Beistand kommt.
Die Abhängigkeit dieser Mannschaft von Neymar ist fatal, und alle Versuche Scolaris, seinen Star zu entlasten, scheiterten. Zunächst hatte der Trainer Ramires für Hulk aufgeboten, später wechselte er Bernard für Ramires ein, irgendwann kam der Jo für Fred, gefährlicher wurde Brasilien nicht. Ob diese Leute Lage sind, ein Turnier zu prägen wie einst das Duo Rivaldo/Ronaldo bei der WM 2002? „Es fällt uns schwer, gegen Gegner zu spielen, die sich auf diese Art und Weise verhalten“, sagte der ebenfalls blasse Oscar, der kaum erwarten kann, dass ihnen ein Kontrahent auf diesem Niveau freiwillig mehr Räume überlässt.
Die beste Chance der Brasilianer hatte noch Innenverteidiger Thiago Silva mit einem Kopfball in der Schlussphase, aber auch den parierte der überragende Torhüter Ochoa. Brasilien ist in dieser Konstellation berechenbar, und das war neben Ochoas Torwartleistung der entscheidende Grund für dieses 0:0 gegen die Mexikaner. Und wenn die Seleção irgendwann im Turnier auf einen Gegner mit stärkeren Offensivindividualisten trifft, könnte auch Rechtsverteidiger Dani Alves zum Problem werden. Der Außenverteidiger vom FC Barcelona wurde mehrfach überrannt und wirkt körperlich nicht auf der Höhe.
Brasilien fürchtet sich vor einem Aus im Achtelfinale
Auch deshalb drängte sich die Frage auf, ob die Brasilien möglicherweise beim Confed-Cup vor einem Jahr sogar stärker war, als jetzt. Scolari erwiderte auf diesen Gedanken: „Nein, das sehe ich nicht so. Das Team macht seine Sache gut. Wir treten hier gegen hochklassige Mannschaften an.“ Auch das war eher eine Botschaft an die skeptische Nation als eine Fachanalyse. Scolari ist zu einem komplizierten Balanceakt gezwungen, er muss Erwartungen relativieren und sein Team dennoch stark reden. In jedem Fall kursiert nach diesem 0:0 die Furcht, dass der Gastgeber schon früh aus dem Turnier ausscheiden könnte, denn fürs Achtelfinale hat der Spielplan einen Gegner aus der starken Gruppe mit Spanien und Holland vorgesehen.
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