Paris. Trotz des 1:2 gegen Frankreich und dem drohenden Abstieg verschafft sich Löw eine Atempause. Weil er endlich den Umbruch einleitet.
Dass es eng wurde für ihn, konnte Joachim Löw ahnen, als sein Chef schwieg. Oliver Bierhoff schweigt selten. Selbst dann nicht, wenn es besser wäre (Stichwort: Özil). Aber nach dem 0:3 in den Niederlanden am Sonnabend war nichts zu hören vom Nationalelfdirektor, der formal Löws Vorgesetzter ist, auch wenn die gemeinsame Geschichte seit 2004 kein reines Chefverhältnis zum Bundestrainer zulässt. Alarmstufe Rausschmiss.
Bierhoff bricht sein Schweigen
Dienstagnacht hingegen hatte Bierhoff Lust zu reden. Es hatte gerade eine weitere Niederlage für Löw und die deutsche Nationalelf gesetzt. Ein 1:2 gegen den Weltmeister Frankreich. Das war bereits die sechste Pleite 2018. So viele in einem Kalenderjahr gab es nie. Bierhoff hatte also kurz zuvor einem historischen Tiefpunkt beigewohnt. Und das letzte Pflichtspieltor aus dem Spiel heraus lag auch schon vier Partien zurück (Marco Reus mit dem 1:1 gegen Schweden bei der WM).
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Bierhoff aber redete von positiven Dingen. „Wir empfinden das Spiel nicht als Sieg, aber es ist ein wichtiges, gutes Zeichen“, sagte der 50-Jährige. Dass Löw auf eine um durchschnittlich zwei Jahre verjüngte Startelf setzte, dass er sich vom lange schon formschwachen Gefährten Thomas Müller lossagte und endlich der Zukunft zuwandte mit Namen wie Leroy Sané, Serge Gnabry oder Thilo Kehrer, das stimmte Bierhoff zuversichtlich.
Ist das jetzt der Beginn einer neue Mannschaft, die den miserablen WM-Sommer nicht einfach verlängert, wurde Bierhoff gefragt: „Ich glaube schon. Man hat eine gute Energie und einen guten Willen gesehen“, sagte er. Und dann hörte es sich so an, als sei Löw irgendwo zwischen Amsterdam und Paris zur Besinnung gekommen: „Es war klar in der Nacht nach Holland, dass Jogi gemerkt und auch gesagt hat: Es muss etwas passieren, weil einfach Esprit und Energie fehlten. Dass man das mit Spielern macht, die unverbraucht sind, ist auch klar“, sagte Bierhoff. Das führt jetzt dazu, dass die Alarmstufe Rausschmiss für Löw vorerst ausgesetzt wird. Bierhoff sagte: „In die Bewertung eines Trainers fließen ja nicht nur die Ergebnisse ein. Es muss vor allem eine Entwicklung erkennbar sein.“ Und die gab es in Paris erstmals seit Monaten.
Deutschland spielte plötzlich wie Frankreich
Nun ist es sicher so, dass das Spiel gegen den Weltmeister paradoxerweise leichter war, als das gegen die Niederlande. Der Erwartungsdruck war kleiner, die Notwendigkeit zu spielerischen Lösungen auch. Das Ballbesitzteam Deutschland konnte plötzlich eine Kontermannschaft sein – und das tat ihm gut. Deutschland spielte nicht mehr wie Deutschland, sondern wie Frankreich.
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Und dennoch war das 1:2 von Paris mehr als nur ein scheuer Lichtstrahl durch eine Mauer aus alten Versäumnissen und Zukunftsangst. Man hatte das Gefühl, dass im Stade de France mit Verzögerung endlich der Neustart stattfand, den es schon nach Russland hätte geben müssen. Löw hat kurz vor dem drohenden Abpfiff seiner Amtszeit doch noch den Mut zu einem wirklichen Umbruch gefunden, der ihm nun den Job retten könnte. Auch wenn der Abstieg aus Liga A der Nations League wohl nur noch zu vermeiden ist, wenn Frankreich die Niederlande im November schlägt und Deutschland dann Tage darauf Holland. Bei einem Remis von Oranje gegen den Weltmeister bräuchte Löws Elf im Rückspiel einen Sieg mit vier Toren Unterschied gegen die Elftal, was bei der aktuell schwachen Chancenverwertung unrealistisch erscheint. Siegen die Niederlande gegen Frankreich, ist Deutschland zweitklassig.
Joachim Löw wirkte in Paris erleichtert. Die Leistung sei „großartig“ gewesen, „nur das Ergebnis stimmt nicht.“ Sein Team habe „auf Augenhöhe mit der wahrscheinlich besten Mannschaft der Welt gespielt“. Warum aber hat er nicht schon früher auf einen neuen Jugendstil gesetzt? Der 58-Jährige kommentierte das so: „Entscheidungen fallen. Manchmal sind sie falsch, manchmal richtig. Bei mir waren sie häufig richtig, manchmal nicht. Ok, das muss man so akzeptieren und dann auch die Lehren daraus ziehen. Nach Amsterdam, als alle frustriert waren, musste es andere Lösungen und andere Reize geben.“
Löw will junge Elf aufbauen
Dass er gewillt ist, die anderen Lösungen nun auch in Zukunft Sané, Gnabry, Kehrer oder auch Niklas Süle heißen zu lassen und nicht stur Müller oder Jerome Boateng, ließ Löw durchblicken: „Die Leistung war klasse. Das war sehr, sehr ansprechend“, sagte er und lobte vor allem Gnabry, Sané und Kehrer. „Darauf ist jetzt natürlich gut aufzubauen.“
Spielglück hatte Löw zuletzt sicher nicht. Auch gegen Frankreich darf man über den Elfmeter diskutieren, den Antoine Griezmann zum Siegtreffer nutzte. „Völlig unberechtigt“, ärgerte sich Löw. Aber der Bundestrainer hat nun zumindest das Glück des Spielplans: Bevor es am 19. November zum Abschluss der Nations League kommt, trifft die DFB-Auswahl vier Tage zuvor für einen Test auf Russland. Da ließe sich der Umbruch fortsetzen und ausprobieren, ob das verjüngte Team auch spielerische Lösungen gegen einen destruktiven Gegner findet. Danach erst geht es noch einmal gegen Holland, die Nation, der Löw am Ende vielleicht sogar dankbar sein muss. Sie hat ihn zum Umdenken gezwungen.