Moskau. Die junge englische Mannschaft begeistert bei dieser WM und elektrisiert die Heimat. Was bedeutet der Halbfinaleinzug für die Briten?
Weit nach Spielschluss in der Samara-Arena stand Harry Kane in der kleinen englischen Fankurve, unterschrieb Autogramme, posierte für Fotos. Im Pressesaal bedankte sich derweil Nationaltrainer Gareth Southgate rührend bei einer ellenlangen Liste von Menschen, die das kleine Fußballwunder mitgeschaffen hatten; die wie er daran geglaubt hatten, dass es “möglich war, den Ball sauber aus der Innenverteidigung nach vorne zu spielen.”
Genau aus diesem Grund habe er vor fünf Jahren das Amt des U21-Trainers übernommen, erzählte der 47-Jährige und benannte dabei aus Rücksicht auf die internationalen Reporter gleich noch seinen Arbeitgeber um. Anstelle der offiziellen Bezeichnung The Football Association, aus der das Jahrhunderte alte Überlegenheitsgefühl der Sportart-Erfinder spricht, setzte er, zwei bis drei Stufen bescheidener, die “English Football Association”.
"It's Coming Home" wird wieder in Pubs skandiert
Es sind vor allem diese Kleinigkeiten, mit denen Southgate und sein Junges Team, vom sportlichen Erfolg des Einzugs in das WM-Halbfinale einmal abgesehen, die Herzen der Fans zurückerobert haben. “Fooball is coming home”, der alte Gassenhauer von der EM 96, den die Deutschen zusammen mit dem Pokal frech aus London entführten, wird wieder lustvoll in den Pubs und Fußgängerzonen des Landes gesungen, doch es geht dabei nur vordergründig um den uralten Traum, den WM-Pokal auf einem roten Doppeldecker-Bus zu präsentieren.
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“It’s coming home” steht für die Freude des Augenblicks, für einen wunderschönen Sommer, in dem der Fußball einer englischen Nationalmannschaft nach all den Enttäuschungen, Pleiten und Peinlichkeiten der Vergangenheit endlich wieder Spaß macht und ein ganzes Land hinter den sympathischen “Three Lions” vereint.
Dass dabei der eine oder andere unter dem Einfluss von Alkohol über die Stränge schlägt, nach dem 2:0-Sieg einen Ikea-Laden in Ost-London auseinandernimmt oder im Übermut vom Dach eines Busses durch das Glasdach einer Haltestelle springt, sollte nicht von der allgemein friedlichen Freude ablenken. Das Gros der Fans auf der Insel feiert ganz ohne chauvinistisches Gehabe, ähnlich wie die Deutschen 2006 aus Glück über ein unerwartetes Geschenk.
Niemand hatte ernsthaft damit gerechnet, dass die mit Ausnahme von Starstürmer Harry Kane (Tottenham Hotpur, sechs WM-Tore) nicht übermäßig stark besetzte Truppe in Russland Tuchfühlung mit dem Goldpokal aufnehmen würde.
Southgate: Fußball kann die Menschen zusammenbringen
“Viele der Spieler haben diese Energie und Zuneigung von den Leuten zu Hause noch nie gespürt”, sagte Southgate, das Gesicht der Bezauberung, in Samara. “Die Chance, alle Menschen in England durch den Fußball zusammen zu bringen und die Stimmung zu verändern ist weitaus gewaltiger als das, was wir mit unseren Ergebnissen bewirken.”
Ein bisschen Glück gehört selbstverständlich dazu. Schwierigere Gegner in der Gruppe und in den bisherigen K.o.-Runden, oder eine größere Treffsicherheit der Kolumbianer im Achtelfinale, und die Engländer wären so schnell wieder aus ihrem Lager nördlich von St. Petersburg abgereist, dass der Fußball gar keine Zeit gehabt hätte, mit ihnen nach Hause mitzukommen.
Doch Southgate, der im Herbst 2016 nur als Verlegenheitslösung für den nach 67 Tagen gefeuerten Sam Allardyce ins Amt kam - “Big Sam” hatte gegenüber einem Undercover-Reporter des Daily Telegraph mit einem big Glass Wein in der Hand Peinlichkeiten ausgeplaudert - hat mit unerschrockenem Elan auf und neben dem Rasen Dinge verändert, die ganz unabhängig von den Resultaten für eine völlig neue Atmosphäre sorgten.
Sein England versucht nicht im Stile einer Coverband den imaginären Tempofußball des klassisch-englischen 4-4-2s auf die internationale Bühne zu hieven, sondern bedient sich den modernen Formations- und Rhythmuswechseln, die ausländische Trainer in der Premier League etabliert haben.
“Pep Guardiola ist definitiv eine Inspiration für diese Elf”, hat Ex-Man-Utd-Spieler Paul Scholes erkannt. “Besonders für die Art und Weise, in der die Innenverteidiger das Spiel eröffnen und auch der Torhüter mitspielt.” Jürgen Klopp, Mauricio Pochettino und Antonio Conte waren für Southgate Taktikfindung ebenfalls entscheidend.
Die "Three Lions" mussten sich die Sympathien erst gewinnen
Ebenso wichtig ist jedoch die vom früheren Nationalspieler erzeugte Nähe zwischen Mannschaft und Publikum. Er und die FA hatten im Vorfeld erkannt, dass es nicht erfolgsvorsprechend war, das Team wie in den englischen Vereinen üblich von der Außenwelt komplett abzuschotten. Die Liebe zum Klub ist bei den Briten so groß, dass sie sich gefallen lassen, wie Kunden behandelt zu werden, doch die Nationalmannschaft musste sich die Sympathien erst gewinnen.
Southgate ließ im Mai den Kader in einem Youtube-Video von Kindern und Jugendlichen verkünden, wies seine Schützlinge an, sich den Medien zu öffnen und baute systematisch das gegenseitige Misstrauen zwischen Kickern un Reportern ab. Als neulich der Korrespondent der Sunday Times mit seinem Sohn ein Videotelefonat in Nähe des Teamhotels führte, kam zufällig Dele Alle (Spurs) vorbei, griff zum Hörer und sprach mit dem Teenager lange über ein Computerspiel. Wer würde es dieser Mannschaft nicht gönnen, es den Helden von 1966 gleich zu tun?
“Ich habe mit den Jungs gesprochen, sie alle sagen, dass sie noch nicht nach Hause wollen”, sagte Southgate vor dem Halbfinale gegen Kroatien am Mittwoch. Träumen ist spätestens jetzt erlaubt.